In die Jahre gekommen, renovierungsbedürftig, mit blätterndem Lack… so lässt sich Mutters Haus beschreiben und eigentlich auch Mutter selbst. Hier und da sitzt einiges schief, versagt seinen Dienst, wackelt erst und löst sich dann ganz auf – Mutters Körper, Mutters Kraft, Mutters Zähne, Mutters Stimme.

Alles entgleitet, verlässt, wendet sich gegen Mutter. Ein eisiger Winter bricht herein und Mutters Garten und Haus scheinen ihren Untergang zu wollen. Mutter keucht, taumelt, zittert… und geht doch nicht unter.

Mutter spült sich selbst aus dem alten Haus, findet eine kleine Dachwohnung in der Stadt, mit Topfpflanzen und Luftmatrazenbett, ohne Badewanne, ohne Telefon. Hier geht Mutter nicht unter.

Mutter lässt sich die Zähne sanieren, lässt sich im Stadtbad in den Wellen treiben. In Telefonzellen am Straßenrand entdeckt Mutter schließlich ihre neue tiefere Stimme.

In 60 Kurzkapiteln erschafft Katharina Mevissen Mutters sehr eigene Welt und nimmt Sprache beim Wort. Konkrete Wörter wie Zähne oder Wurzeln und Tätigkeiten wie Graben, Schwimmen oder Sprechen verbinden sich mit abstrakten Gefühlen von Verlust, Schweigen, Einsamkeit, Stärke und Alter. Poetische Bilder werden fassbar, ja anfassbar gemacht.

Die Autorin macht Sprache lebendig und zu etwas Körperlichem, vielleicht steht die Figur der Mutter selbst für den körperlichen Aspekt der Sprache. Eine Sprache, die in uns wächst, sich entwickelt, die auch verstummt und zerfällt, wenn wir sie nicht nutzen, wenn wir sie nicht mit anderen Menschen teilen und austauschen. Eine lebendige Sprache, die sich aber auch wandeln kann, die die Zähne bleckt, mit der Zunge schnalzt und herzhaft zubeißt. Ein bewundernswert organischer Text.

MUTTERS STIMMBRUCH erzählt von Mutters Transformation. Mutter erlangt neue Größe, neue Kraft, ein neues Alter … Nein, Mutter geht nicht unter, sie sinkt nicht, sie singt!

Ich freue mich sehr, dass Katharina Mevissen für diesen Text den Bremer Förderpreis 2024 erhalten hat!

[unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar]