Natascha Wodin – Der Fluss und das Meer
- Stephanie Schaefers
- Januar 18, 2024
- #diekanon, #erzählungen, #herkunftsgeschichte, #nataschawodin, #rowohlt, #weiblicherkanon
Die Geschichte wiederholt sich, sie bewegt sich nicht linear, sondern dreht sich im Kreis.“
Natascha Wodin öffnet diesen Kreis für einen kurzen Moment, fünf Ich-Erzählerinnen ziehen uns mit in ihre Gedankenströme und lassen uns durch fünf dunkle Erinnerungen wirbeln.
In der Titelgeschichte „Der Fluss und das Meer“ spürt eine erwachsene Ich-Erzählerin der Verbindung zu ihrer toten Mutter nach, die sich, traumatisiert von grausamen Kriegs- und Fluchterlebnissen, in einem Fluss ertränkt hat. Zurück blieb ihre Tochter, die bis heute versucht, den anhaltenden eigenen und ererbten Verlustschmerz in ein fließendes, Kraft spendendes Andenken zu verwandeln.
Auch in „Nachbarinnen“ wird eine Ich-Erzählerin von einem Gespenst der Vergangenheit heimgesucht: Einst lebte sie, jung verheiratet und mit dem Ziel, ihre prekäre Herkunft hinter sich zu lassen, mit ihrem Mann als Mieterin in einer gediegenen Wohnsiedlung. Der soziale Aufstieg scheint greifbar, doch die nebenan lebende Frau wird zum persönlichen Störelement. Über Jahre hinweg verfolgt die Ich-Erzählerin den körperlichen und sozialen Verfall der Nachbarin. Erst in der Rückerinnerung kommt ihr die grausame Erkenntnis, warum sie der Frau beim Verschwinden zugesehen hat, ohne jemals Hilfe zu leisten.
Das rückblickende Erzählen steht auch bei den anderen drei Erzählungen im Fokus. Als wiederkehrendes Thema begegnet uns das Gefühl von Verlust, Trauer und mangelndem Vertrauen. Lebensumstände und Handlungsorte scheinen mit der eigenen Biografie der Autorin verwoben. Im Zentrum stehen Beziehungen zu Randfiguren, die in einen ausweglosen Kreislauf von Ereignissen hineingezogen werden, dem sie oft nur durch ihr eigenes Verschwinden entkommen können.
Fünf Erzählungen über einsames Warten und unheilvolles Schweigen, in denen der späte, endlich ausgesprochene Rückblick als Möglichkeit gesehen wird, Erinnerungen zu sortieren, neu zusammenzusetzen und dem bisher Verschwiegenen etwas von seinem Schrecken zu nehmen.
Geschichten unheilvoller Wiederholungen, die die Lesenden aushalten müssen. Nicht einfach in dieser düsteren Zeit.
[Werbung, eigenes Exemplar]
Infos zum Buch
Genre Erzählungen
Verlag Rowohlt Buchverlag
Seitenzahl 192
ISBN 978-3498003760
Erscheinungsdatum 12.12.2023