
Judith Hermann – Daheim
- Stephanie Schaefers
- Mai 24, 2022
- #herkunftsgeschichte, #judithhermann, #meertext, #roman, #sfischer, #weiblicherkanon
Schon auf den ersten Seiten ihres Romans beschwört Judith Hermann etwas Magisches herauf: Die namenlose Ich-Erzählerin erinnert sich, wie sie sich vor fast dreißig Jahren von einem Zauberer in einer Kiste zerteilen ließ. Immer wieder ruft sie in der Jetztzeit diese Erinnerung auf, die mit einer nie stattgefundenen Reise ins ferne Singapur als Assistentin des Zauberers hätte fortgesetzt werden können.
Möglichkeit und Wirklichkeit, Ferne und Nähe, Gemeinschaft und Alleinsein, Bindung und Freiheit. Diese Gegensatzpaare sind – so könnte man fast meinen – damals in der geteilten Zauberkiste entstanden, bewegen sich nun durch den Roman und kreisen konstant um die große Frage: Wo ist mein Platz in der Welt?
„Daheim“. Bereits der Titel, dieses schöne alte Wort, ruft ein wehmütiges Gefühl hervor, das sich von Seite zu Seite intensiviert: eine Sehnsucht, oder besser: ein Sehnen und Suchen.
Die Ich-Erzählerin sehnt sich nach Verbindungen zu anderen Menschen, vor allem muss sie sich selbst neu suchen. Ihre erwachsene Tochter Ann ist unabhängig und frei in der Welt unterwegs. Ihren Mann Otis hat die Erzählerin verlassen, schon immer trennte sie vieles voneinander, doch in intimen Briefen sind sie weiterhin verbunden. Er ist noch in der fernen Stadt, in der sie einst zu dritt als Familie zusammenlebten. Nun ist die 47-Jährige „alleiniger“ denn je zuvor in einem kleinen, einsamen Häuschen an der Küste. Zaghaft sucht sie nach neuen Bindungen, nach neuen inneren wie äußeren Räumen. Daheim existiert nicht im Plural.
Wie Judith Hermann von einem Leben auf dem Lande erzählt, ohne eine Landidylle zu beschwören, ohne die existentielle Leere zu füllen, die alle Figuren umtreibt, ob verwurzelt oder ungebunden, macht diesen Roman zu etwas Besonderem. Die sparsam erzählte Geschichte wirkt nie zu bedeutungsschwer, sondern bleibt sehnsuchtsvoll, schwebend und offen. Mal stimmt sie hoffnungsvoll, mal melancholisch. Auch dem Lesenden wird ganz viel Raum gelassen.
[Werbung, eigenes Exemplar]
Infos zum Buch
Genre Roman
Verlag S. Fischer
Seitenzahl 192
ISBN 978-3596700554
Erscheinungsdatum 31.08.2022