Joachim B. Schmidt – Ósmann

„Ich sah den Schmerz hinter seinen Augen, er hatte ihn weggesperrt, und er würde ihn nicht mit mir teilen, obschon ich gewillt gewesen wäre, die Last mit ihm zu tragen.“ (149)

Eine kleine Flussmündung im Skagafjord in Nordisland um 1900: Das Leben von Jón Magnússon, von allen nur Ósmann genannt, ist hart und entbehrungsreich. Ósmann ist der einzige Fährmann dieser Gegend, er kurbelt Menschen und Tiere mit einer Seilfähre über den Ós.

„Alle, die von Ost nach West reisen, müssen mit mir über den Ós.“ (130)

Obwohl der Hüne äußerlich unerschrocken und seinen Mitmenschen stets zugewandt erscheint, zerbricht er im Laufe seines Lebens innerlich. So viele geliebte Menschen verschluckt der Fjord oder werden ihm auf andere Weise schmerzlich entrissen.

„Weiß er denn nicht, dass nichts von Dauer ist, bloß die Vergänglichkeit und der Tod? Hat der denn vergessen, dass jede Lebensstunde einen Schmerz verursacht, jede Begegnung, jeder Atemzug?“ (234)

Geliebt und umarmt, gehalten und verstanden fühlt sich Ósmann nur vom eiskalten Wasser des Skagafjords. In den vielen Stunden an seinem Fabelstrand, nimmt sein aufmerksamer Blick das Verborgene der Wasserwelt wahr, sieht mythische Wesen des Meeres und solche, die von der lebenden Seite auf eine andere übergegangen sind.

„Draußen heulte der Wind und ließ den Fährmann immer wieder aufhorchen. Oder waren es die Geister, die an die Scheibe klopften?“ (206)

Durch die Augen eines geheimnisvollen Ich-Erzählers blicken wir auf Ósmanns Leben, das sich wie ein Bühnengeschehen abspielt, unchronologisch in verschiedene Szenen seiner Lebensjahre springt. Wir erleben den unerschütterlichen Fährmann als zupackenden Retter oder trinkfesten Zuhörer in frostharten Winternächten, aber auch in seiner einsamen Zerbrechlichkeit, wenn er bei Kerzenschein, eingehüllt in Robbenfelle, einfühlsame Verse über die Endlichkeit des Seins und sein tiefes Vertrauen in die mystische Natur schreibt.

„Manchmal, wenn er allein am Fabelstrand war und auf Reisende wartete, legte er das mit einem Gedicht beschriebene Blatt Papier auf die Wasser des Ós und schaute ihm zu, wie es von der langsamen Strömung fortgetragen wurde, sich schnell vollsog, wie sich die Tinte mit dem Papier auflöste, das Gedicht, die Gefühle, die in ihm steckten, sie wurden vom Ós aufgenommen und ins Meer hinausgetragen, das schier endlose Meer, das die Gedichte, die Wörter, die Gefühle aufbewahrte, als wäre es ein Archiv.“ (118)

Aus einer rasanten Multiperspektive näherte sich Joachim B. Schmidt 2022 in seinem Roman TELL dem Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell. Er holte Tell von einem allzu überhöhten Heldensockel, schilderte ihn als äußerlich aufbrausenden und innerlich gebrochenen Menschen. Ähnlich verfährt Schmidt nun in ÓSMANN, erzählt lebensnah über die historisch verbürgte Figur Jón Magnússon, überwindet erzählerisch die Reduktion auf das starre, leblose Legendenhafte und zeigt Ósmann als unverstellten, fühlenden Menschen.

„Weiß er denn nicht, dass nichts von Dauer ist, bloß die Vergänglichkeit und der Tod? Hat er denn vergessen, dass jede Lebensstunde einen Schmerz verursacht, jede Begegnung, jeder Atemzug?“ (234)

Zeitlos schwebend und mit tragischer Leichtigkeit verwandelt Schmidt Stoffe aus dunkler Vergangenheit in etwas pulsierend Flirrendes. Sehr lesenswert!

Nun wünsche ich mir, dass Joachim B. Schmidt einer isländischen Heldin unvergleichlich neues Leben einhaucht.

[Unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar]

Infos zum Buch

Genre Roman
Verlag
Diogenes
Seitenzahl 288
ISBN 978-3257073300
Erscheinungsdatum 26.03.2025

Danke an Diogenes für das Rezensionsexemplar!