Elizabeth Strout – Am Meer

März 2020: Lucy Bartons Ex-Mann William, mit dem sie eng befreundet ist, drängt sie, New York zu verlassen und bringt sie beide in ein abgelegenes Haus an der Küste von Maine. Als Parasitologe scheint er die Gefahr zu ahnen, die von einem winzigen Virus ausgeht. Er bittet auch die erwachsenen Töchter Becka und Chrissy, Brooklyn zu verlassen. Wenig später befindet sich die Welt, sie selbst, ihre Freunde und Familie in jeder Hinsicht im Ausnahmezustand.

„Und mir dämmerte – langsam, so ungeheuer langsam – , dass ich New York lange, lange Zeit nicht wiedersehen würde.“ (32)

Obwohl sich die Ich-Erzählerin Lucy in dem Haus am Meer scheinbar fernab der Pandemiezentren aufhält, fühlt sie sich an diesem Ort, in ihrem Körper und im Austausch mit anderen Menschen plötzlich fremd und auf sich selbst zurückgeworfen. Während langer Spaziergänge am Meer und schlafloser Nächte erinnert sich die erfolgreiche New Yorker Autorin an ihre Kindheit in prekären Familienverhältnissen, an ihre Ehe und frühere Krisen mit William, an die Beziehung zu ihren Geschwistern und die Gefühle zu ihren Töchtern – all das bricht nun hervor. Es sind die Ereignisse in der großen und in ihrer eigenen kleinen Welt, die sie zutiefst erschüttern und ihre bisherigen Grundkonstanten ins Wanken bringen.

Mit „Ach William!“ schließt Lucy während des Jahres am Meer immer wieder die Gespräche mit ihrem Ex-Mann ab. Dieser Ausruf knüpft einerseits an den gleichnamigen Vorgängerroman OH WILLIAM an, drückt aber auch schlicht Lucys Sprach- und Fassungslosigkeit aus.

Obwohl Elizabeth Strout ihren vierten Roman um Lucy Barton in tagebuchartigen Versatzstücken erzählt, gelingt ihr eine fließende Verschmelzung verschiedener Perspektiven: Einerseits bleibt die Autorin glaubhaft nah an den Gefühlen ihrer Hauptfigur, andererseits blickt sie durch Lucys individuelle Sicht auf die US-amerikanische Lebenswelt und aktuelle Debatten, wenn sie etwa im Fernsehen von der Ermordung von George Floyd oder dem Sturm auf das Capitol erfährt oder nur telefonisch an Jobwechsel, Trennung und Fehlgeburt im Leben ihrer Töchter teilnehmen und mitfühlen kann.

Ein fein komponierter Corona-Roman, der die Zeit der Pandemie, ihre Katastrophen, Herausforderungen und Ambivalenzen auf vielen Ebenen reflektiert, aber auch grundsätzliche Ängste von Verlust, Entwurzelung und Einsamkeit betont.

„Irgendwie war mir das Meer ein großer Halt, genau wie meine beiden Inseln, die immer da waren.

Die Traurigkeit, die in mir abebbte und anschwoll, war wie Ebbe und Flut.“ (S. 83)

Langjährige Strout-Leser:innen kennen die fiktive Küstenstadt Crosby, den Handlungsort des Romans, bereits aus MIT BLICK AUFS MEER und DIE LANGEN ABENDE um die Figur Olive Kitteridge. Die ehemalige Mathematiklehrerin Olive Kitteridge tritt in AM MEER nicht real in Erscheinung, aber eine Nebenfigur betreut sie im Seniorenheim und erzählt Lucy Barton von ihr. Vielleicht lässt Elizabeth Strout in ihrem nächsten Roman ihre beiden bekanntesten Protagonistinnen aufeinandertreffen? Spannend, wie die Autorin ihre fiktive Welt immer weitererzählt und miteinander verbindet.

Übersetzung: Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth

[Werbung, Rezensionsexemplar]

Infos zum Buch

Originaltitel Lucy by the Sea
Genre
Roman
Verlag
Luchterhand Literaturverlag
Seitenzahl 288
ISBN 978-3630877488
Erscheinungsdatum 14.02.2024

Vielen Dank an den Luchterhand Verlag für das Rezensionsexemplar