Yunus hat Zeki an einen Abgrund verloren. Ein zweifacher Schlaganfall nimmt dem Sohn mit 13 Jahren den Vater, ein Locked-in-Syndrom sperrt ihn danach über ein Jahrzehnt im eigenen Körper ein, lässt ihn nur durch Augenzunge mit seiner Ehefrau kommunizieren.

Lange nach Zekis Tod tritt der erwachsene Yunus an den Abgrund heran, wagt den Blick hinunter und stellt fest, dass dieser nicht in die Tiefe, sondern in die Weite führt:

Er bringt ihn in die staubigen Gassen von Mardin, Geburtsstadt seiner Eltern, wo die Sonne nie unterzugehen scheint und die zurückgelassenen Verwandten auf die Rückkehr derer warten, die einst in die Ferne zogen. Er führt ihn in die Studentenviertel Istanbuls, die in den 70er Jahren vor Aufbruchsstimmung vibrierten und wo sich Yunus` Eltern kennenlernten. Es geht in düstere Proberäume nach Hannover, wo Yunus in den 90er Jahren zu scheppernder Gitarrenmusik rebellierte und mit einem Tinnitus bezahlte. Und immer wieder blickt Yunus, der später in Berlin lebt, in die kleine Familienwohnung, in der er vor allem durch die Stärke und Anwesenheit seiner Mutter Senem trotz aller Herausforderungen geschützt aufwachsen konnte.

„Eine Erinnerung ruft die nächste. Wo ich eine Wüste erwarte, stoße ich auf ein Meer. Hinter einem Felsvorsprung, den ich kenne, gelange ich an unbekannte Buchten.“ (110)

Yunus lässt sich in fremde und eigene Erinnerungen treiben, umkreist erzählte und erfundene Familiengeheimnisse, fügt belegte Zeitgeschichte hinzu. VATERS MEER ist ein sanfter, intimer Collagentext, der sich assoziativ und in Schleifen durch die Biografie der Eltern wie durch die des Ich-Erzählers Yunus bewegt.

Ein Erinnerungstext, der nicht eine einzige Wahrheit oder Geschichte in den Vordergrund stellt, sondern sich aus der vielschichtigen Selbstbefragung heraus als etwas Offenes und Fließendes entwirft.

Deniz Utlus autofiktionaler Text akzeptiert rückblickend die physische Abwesenheit des Vaters und findet Trost und Wärme in der Präsenz verbindender Erzählungen, die sich wie kleine Wellenlinien berühren, das Wasser kräuseln, Erinnerung stetig verändern. Eine wunderbar poetische Herkunftsgeschichte!

[unbezahlte Werbung, eigenes Exemplar]