Dacia Maraini – Tage im August

Sommerferien, eine kurze Auszeit, eine wohltuende Abwechslung, all das könnte vor Anna liegen, als ihr Vater Aldo sie im August mit dem Motorrad aus dem von strengen Nonnen geführten Internat in Rom abholt. Gemeinsam mit Annas jüngerem Bruder Giovanni fahren sie in eine italienische Kleinstadt am Meer. Bei ihrem Vater sollen die Halbwaisen ihre „vacanza“, ihre Ferien, verbringen (so auch der Romantitel im Original).

Doch die Ich-Erzählerin Anna erlebt den Sommer des Jahres 1943 als eine quälende Leere (diese Doppeldeutigkeit ist dem italienischen „vacanza“ direkt eingeschrieben). Sie fährt mit dem ihr fremden Vater in ein unbekanntes Zuhause, lernt dessen neue Partnerin Nina kennen, weiß kaum etwas vom wirklichen Leben außerhalb der Internatsmauern. Annas Sommertage, die von außen zunächst als Tage der Langeweile und passiven Gleichgültigkeit erscheinen, sind für die Vierzehnjährige Tage des zähen Stillstands, schon seit einer „langen Weile“ spürt sie ein gleichgültiges Nichts.

„Während ich über Giovanni nachdachte, fiel mir auf, dass ich mich selbst auch nicht kannte. Ich hatte mich aus den Augen verloren. Irgendwo. Wo genau, spielte keine Rolle. Ich drehte mich zur Wand und versuchte mit dem leisen monotonen Rauschen des Meeres im Hintergrund einzuschlafen.“ (114)

Fast beiläufig bricht der Krieg im faschistischen Italien in das harmlose Strandleben ein. Düsteres Meer, gleißendes Sonnenlicht, brütende Hitze, stickige Innenräume, schwitzende Körper – in dieser aufgeladenen Atmosphäre beobachtet und belauscht die stille Anna die Erwachsenen, die wie gelähmt um sich selbst kreisen.

„Die Welt ist die Hölle“, flüsterten sie mit drohender Stimme. Doch jetzt war ich draußen und wollte diese Welt kennenlernen, und zwar alles. Ganz eintauchen. Aber bis jetzt schmeckte sie bitter.“ (178)

Anna registriert die sexuellen Begierden, die sie in diesem Sommer bei Männern jeden Alters weckt. An den halbdunklen Rändern sucht Anna, wie ihr Bruder Giovanni, das wahre Leben in direkten, körperlichen Begegnungen. Mit einer vagen Vorstellung von Liebe und Sehnsucht ist Anna bereit, sich durch Schmerz, Verlust und Abgründe hindurch lebendig zu fühlen.

„Als ich unter das Laken glitt, zitterte ich beim Kontakt mit dem kühlen Stoff. Ich fühlte das Salz auf meiner Haut, leckte mir über den Arm und dachte an das Bad im Meer. Im Nacken spürte ich die noch feuchten Locken, die mich kitzelten.“ (182)

Vor 60 Jahren veröffentlichte Dacia Maraini im Alter von 17 Jahren ihren Debütroman. Im Jahr 1962 galt die brisante Geschichte über das sexuelle Erleben eines jungen Mädchens im Sommer 1943 als Skandal und brach viele Tabus. Bis heute hat der Roman mit seinem mikroskopischen Blick auf gesellschaftliche Leerstellen nichts von seiner Brisanz verloren. Ein Text, der mich in seiner kühlen, wertfreien Direktheit erschüttert hat. TAGE IM AUGUST ist in seiner pochend-verzweifelten Dringlichkeit wie die weibliche Version des „Fängers im Roggen“.

Übersetzung: Aus dem Italienischen neu übersetzt von Ingrid Ickler.

[Werbung, Rezensionsexemplar]

Infos zum Buch

Originaltitel La vacanza
Genre
Roman
Verlag
Folio Verlag
Seitenzahl 236
ISBN 978-3-85256-894-2
Erscheinungsdatum 23.02.2024

Vielen Dank an den Folio Verlag für das Rezensionsexemplar!