Caroline Wahl – 22 Bahnen

69 Minuten dauert die Fahrt von der Uni zum Schwimmbad, 22 Bahnen schwimmt Tilda dort, wann immer sie kann, oft wird ihr schwirrend voller Kopf erst ab Bahn 20 leichter. 51 Meter, vielleicht aber auch 5 Jahre und ein gelebtes Leben, liegen zwischen ihr und Viktor als sie ihn – ebenfalls beim Bahnenziehen – zum ersten Mal bemerkt und ein Libellenschwarm in ihr erwacht. Doch Tilda eilt schnell nach Hause, klopft 2 mal schnell und 3 mal langsam an Idas Zimmertür, um ihre 10-jährige Schwester zu umsorgen. Die Mutter liegt im Wohnzimmer, neben ihr stehen 1 Flasche Fürst Uranov, 2 Flaschen Blanchet Rosé und 1 Flasche Rotkäpppchen – leer. Seit Tilda 13 Jahre alt ist, trinkt die Mutter, an guten Tagen brät sie ihren Töchtern Spiegeleier. Im Schnitt passiert das alle 12 Tage.

Zahlen machen das Chaos um Tilda quantitativ fassbar und geben ihrem Leben Struktur. Ein Leben, das einer eher ungünstigen Wahrscheinlichkeitsrechnung folgt. 6 Jahre nach dem Abitur ist Tilda immer noch an ihre Kleinstadt gebunden und arbeitet für ihre Familie an der Supermarktkasse, während ihre ehemals beste Freundin Marlene, die aus einer intakten Abendbrottisch-Familie stammt, in gewohnter Maßlosigkeit durch die Welt zieht und sich nimmt, was sie will. Wie gerne würde Tilda die Zeit für einen kurzen Moment anhalten, vielleicht sogar zurückdrehen. Aber da ist nur ein Jetzt, und im Jetzt steht Ida. Tilda weiß, dass sie keine ihrer bisherigen Entscheidungen bereut, denn Ida würde sie nicht tauschen wollen. Tilda und Ida, jede die Hälfte eines Ganzen, eine eigene intakte Familie, die zum Abendbrot platte Radieschen isst. Wird Tilda in 5 Monaten ihr und vor allem Idas Leben in der Kleinstadt sortieren können, dass sie ihre jüngere Schwester verlassen kann, um ihre Mathe-Promotion in Berlin zu beginnen? Schwerpunkt Wahrscheinlichkeitstheorie.

Ich-Erzählerin Tilda nimmt die Lesenden direkt mit in ihren Lebensalltag, schnelle, authentische Dialoge, die an ein Drehbuchskript erinnern, geben der Romanhandlung einerseits Dynamik, durch die Alltagssplitter und Tildas Erinnerungen verlangsamt sich der Erzählmodus immer wieder und ermöglicht intensive, intime Momentaufnahmen. Obwohl Tildas und Idas Alltag von Alkohol- und Drogenkonsum, fehlender Fürsorge ihrer Mutter und Geldmangel geprägt ist, wirken beide Figuren sehr unschuldig, zerbrechlich und angepasst. Die Wut, die sich bei mir aufgrund dieser Lebenssituation entwickelt hat, hätte ich bei den Protagonistinnen noch stärker erwartet. Sicherlich bricht der Roman aber gerade mit Klischees über Klassismus, wenn die Protagonist*innen, die von einem rauen, entbehrungsreichen Umfeld umgeben sind, als sehr feinsinnige und leise kämpfende Menschen dargestellt werden, die sich nicht so schnell „aus der Bahn werfen“ lassen.

Caroline Wahl erzählt in ihrem Debütroman neben einer bittersüßen Love-Story und einer mutmachenden Coming-of-Age-Geschichte vor allem eine berührende Schwesternliebe, die mich überzeugt hat!

[Werbung, Rezensionsexemplar]

Infos zum Buch

Genre Roman
Verlag
DuMont
Seitenzahl 208
ISBN 978-3832168032
Erscheinungsdatum 18.04.2023