Ulrich Alexander Boschwitz – Der Reisende

Er glaubt, dass ihm nichts passieren werde. Ihm, dem wohlhabenden Kaufmann mit eigener Wohnung in bester Lage und einem erfolgreichen Geschäft. Er meint, er müsse sich nur ruhig verhalten, vielleicht ein wenig in den Hintergrund treten. Sein Unternehmen hat er seinem Freund und Prokuristen Becker überschreiben müssen – aber doch nur auf dem Papier, bald wird sich alles wieder beruhigen.

Dann wird sein Haus gestürmt – gerade noch rechtzeitig kann er über die Hintertreppe fliehen. Unbemerkt läuft er durch die brennenden Straßen, sieht mutwillige Zerstörungen und willkürliche Verhaftungen, überbordende Gewaltausbrüche. Er ist fassungslos, hat diese Eskalation nicht kommen sehen, nicht sehen wollen.

„Aber das kann doch nicht sein! Man holt doch keine unbescholtenen Menschen aus ihren Wohnungen heraus! Das kann man doch nicht!“ (25)

Es ist der 9. November 1938. Er ist Otto Silbermann. Er ist Jude und erlebt die Pogromnacht in Berlin.

Wenig später sitzt Otto Silbermann im Zug und verlässt seine Stadt. Der einzige Vorteil: sein vermeintlich nicht-jüdisches Aussehen, sein souveränes Auftreten und ein Koffer voller Bargeld. Als Reisender getarnt bewegt sich Otto Silbermann fortan in Zügen kreuz und quer durch das Deutsche Reich.

Auf endlosen Zugfahrten umgeben vom allgegenwärtigen Antisemitismus, gewinnt er Schachpartien gegen Nationalsozialisten, warnt junge Wehrmachtssoldaten vor dem Krieg, erkennt jüdische Flüchtende in Sekundenschnelle und erlebt zitternd ihre Verhaftung. Obwohl Otto Silbermann in einigen Momenten Zuspruch, Verständnis und selbstlose Hilfe erfährt, weiß er bald nicht mehr, wo er Ablehnung zu erwarten hat, vielleicht sogar selbst Verrat begeht.

Sein eigentliches Ziel, die Flucht zu seinem Sohn nach Paris, rückt in unerreichbare Ferne. Geld, Orientierung, Mitgefühl, Vertrauen und Zuversicht, materielle und menschliche Werte, all das geht Otto Silbermann nach und nach verloren, und so bröckelt auch seine Fassade als Reisender.

„Er ging zu einer Bank und setzte sich. Jetzt überkam ihn tiefe Mutlosigkeit. Es geht natürlich schief, dachte er. Wie habe ich jemals glauben können, dass ich es schaffen würde?! (146)

Ein Transitleben am Abgrund, vornehmlich dialogisch erzählt, fast wie ein Bühnenstück, unmittelbar entlang atemloser Kippmomente. DER REISENDE von Ulrich Alexander Boschwitz ist ein bemerkenswerter Roman: Bemerkenswert, denn im November 1938 befindet sich der jüdische Boschwitz selbst bereits im Exil. Doch der 23-jährige Autor beschreibt die Geschehnisse in Deutschland so eindringlich, dass er den Lesenden durch die Figur des Otto Silbermann mitten in das nationalsozialistische Grauen versetzt. Bemerkenswert auch, weil Boschwitz´ Roman 1939 nur in englischer Übersetzung erschien und das deutsche Manuskript nach Boschwitz´ dramatischem Tod im Jahr 1942 jahrzehntelang verschollen war. Erst 2018 bringt der Verleger Peter Graf den Roman erstmals in Deutschland heraus.

Dieser Roman hat bis heute nichts von seiner Dramatik und Aktualität verloren. Unbedingt lesen! Heute! Morgen! Immer wieder!

„Wie soll man denn mit alledem fertig werden, verzweifelte er. Die Vernunft will von mir Selbstmord. Ich aber will leben! Ich will trotz allem leben!“ (287)

[Werbung, eigenes Exemplar]

Infos zum Buch

Genre Roman
Verlag
Klett-Cotta
Seitenzahl 304
ISBN 978-360-898154-4
Erscheinungsdatum 23.02.2019