Silke von Bremen – Stumme Zeit

War es Helma Petersens Pflicht ihrem Vater Sönnich bis zu seinem Tod zur Seite zu stehen? Kann nun Freude in das von schmerzhaften Erinnerungen erfüllte Reetdachhaus einkehren und Helma, die vierzigjährige Tochter, als letzte der Familie Petersen, ein selbstbestimmtes Leben führen?

Sylt im Jahr 1975. Fünf Jahre nach Sönnichs Tod suchen Helma die Dämonen der Vergangenheit erneut heim, als sie beim Sortieren des väterlichen Nachlasses auf das Tagebuch ihrer kurz nach ihrer Geburt verstorbenen Mutter Karen stößt. Nicht nur der intime Einblick in die Gedankenwelt ihrer Mutter, sondern auch Karens Freundschaft zu Lena, der Mutter ihres Kindheitsfreundes Rudi Carstensen, sind beunruhigend. Die Informationen über Lena, die 1944 unter dubiosen Umständen verschwundenen ist, und über ihre Mutter verdeutlichen Helma, dass sie ihr Leben in einer Dorfgemeinschaft verbracht hat, deren Zusammenhalt über Generationen hinweg vor allem in einem bestand: Wegschauen und Schweigen.

Silke von Bremen nimmt die Lesenden in ihrem Debütroman STUMME ZEIT auf eine doppelte Zeitreise mit: Die eingeflochtenen Erinnerungen und mündlichen Überlieferungen der Familien Petersen und Carstensen verdeutlichen die Verstrickungen und Unsagbarkeiten nationalsozialistischer, patriarchaler Machtstrukturen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, die bis in die Erzählgegenwart des Jahres 1975 reichen.

Die 1970er Jahre werden wiederum als eine Zeit beschrieben, in der gesellschaftliche Umbrüche spürbar sind, die sich als zaudernde Aufarbeitung der Vergangenheit auch im traditionsbehafteten Dorf bemerkbar machen.

Für die Sylter:innen gerät die einst so ‚schöne‘ Ordnung ihres stillen Inseldaseins zusätzlich durcheinander, da immer mehr Touristen auf die Insel kommen, die ebenfalls ihre Zeit unter den Reetdächern verbringen wollen. Verfallene Gehöfte werden zu Immobilien, erste Inselbewohner:innen werden vertrieben.

Allerdings mag der doppelte Zeitsprung des Romans die Autorin zu einer gewissen nostalgischen Verklärung verleitet haben. Die grundsätzlich sympathisch gezeichneten Hauptfiguren Helma und Rudi wirken oft wie ahnungslose, nicht erwachsen gewordene Kinder. „Fang doch mal an, dein eigenes Leben zu leben“ (158), bekommt Helma einmal gesagt, weiß aber nicht so recht, wie sie das umsetzen soll. Mit etwas mehr kritischer Distanz und Mut zu weiteren Brüchen hätten Helma und Rudi als zwar geläuterte, aber auch deutlich gewachsene Charaktere hervorgehen können.

Am Ende des Romans bleibt der Eindruck einer recht glatt gestalteten Inselidylle. Daran ändert auch der allerletzte dramatische Perspektivwechsel auf die Figur Lena nichts.

Dennoch: Ein lesenswerter Roman, der mehrperspektivisch über Verwurzelung und Flucht, von Zugehörigkeit und Verrat erzählt und zeigt, wie schwer die unsichtbaren Zäune, die Menschen sich durch ein selbstauferlegtes Schweigen errichtet haben, wieder einzureißen sind. Spannend, wie sich die ruhige und raue Inselatmosphäre in eine bedrohliche Stille verwandelt, die erst durch die unerzählten Schicksale der verschiedenen Frauenfiguren durchbrochen wird.

[Werbung, Rezensionsexemplar]

Infos zum Buch

Genre Roman
Verlag
Dörlemann
Seitenzahl 460
ISBN 978-3038201373
Erscheinungsdatum 22.02.2024

Vielen Dank an den Dörlemann Verlag und die Agentur Kirchner Kommunikation für das Rezensionsexemplar!