Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern

„Aber das Ende der einen Geschichte war der Anfang der nächsten, so lächerlich das auch klang.“ (334)

Wo beginnt eine Generationengeschichte, wo endet sie? Wie sind Menschen über Raum und Zeit hinweg als (Wahl-)Familie miteinander verbunden, welche Erfahrungen brennen sich – weil jeder Gedanke an sie mit Schmerz und Trauer erfüllt ist – transgenerational ins Gedächtnis?

Rabea Edels Mehrgenerationengeschichte setzt im Jahr 1989 ein, ob sie hier beginnt, sich wiederholt oder endet, bleibt lange offen. Nach bunten Wanderjahren durch Europa zieht Raisa mit ihrer Mutter Martha in ein graues Siedlungshäuschen bei Bremerhaven. Raisa bemerkt, dass Martha hier ein Schweigen umhüllt. Ein ungutes Schweigen über ihre Herkunft und ihr Aufwachsen an genau diesem Ort, über Raisas Großeltern und ihren unbekannten Vater.

„Warum kenne ich niemanden aus unserer Familie, deine Mutter, deinen Vater, deine Großmutter, irgendjemanden, die können doch nicht wirklich alle schon tot sein? Was ist das für ein Fotoalbum, das da im Keller lag, und warum gehören wir nicht wirklich dazu und warum stört dich das nicht?“ (256)

Als bedrohliches Angsttier oder nächtliches Telefonklingeln, als unbekannte Namen und fremde Orte, die Martha im Schlaf murmelt, huscht die mütterliche Vergangenheit umher, ist wie eine dichte Mauer aus fünfhundert Steinen allgegenwärtig. Zusammen mit ihrem Nachbarn und treuen Freund Mat macht sich Raisa zögernd daran, in die Schwarzen Löcher ihrer Familie zu blicken und das schmerzhaft Unsagbare laut auszusprechen.

„Es gab Dinge, die unsagbar bleiben sollten, weil das Aussprechen sie real werden ließ. Ein Leben konnte kaputt erzählt werden. Aber es konnte auch gesund erzählt werden, im Sinne von: Ich spreche aus. Ich benenne Menschen, Orte, Ereignisse. Ich gebe ihnen eine Bedeutung.“ (343)

In fünfzehn Großkapiteln erzählt Rabea Edel in PORTRAIT MEINER MUTTER MIT GEISTERN von der Ich-Erzählerin Raisa, ihrer Mutter Martha, Großmutter Selma und Urgroßmutter Dina und vielen anderen von der historischen und individuellen Geschichte versehrten Figuren, die über ein Jahrhundert hinweg in ihren Erfahrungen von Liebe und Trauer, Sehnsucht und Verlust tief miteinander verbunden sind.

„In die Vergangenheit wurde nie geschaut. Niemand wollte das. Niemand wollte hören, was sie getan oder eben nicht getan hatten, sie alle.“ (122)

Die Schicksale der Frauen und ihrer Weggefährt:innen werden nicht chronologisch aufeinanderfolgend erzählt, sondern durch assoziative Querverbindungen miteinander verschlungen. So sucht nicht nur Raisa nach Zusammenhängen in ihrer Familiengeschichte, sondern auch die Leser:innen müssen sich erst einmal orientieren (Der Stammbaum im Klappentext hilft).

Eine mitreißende Gesamtkonstruktion mit kantig-eigenwilligen Figuren in einer starken poetischen Bildsprache: Große Leseempfehlung für diesen fesselnden Roman, in dem die Autorin auch Versatzstücke ihrer eigenen Biografie verarbeitet.

„Das übrig gebliebene Schweigen zwischen den Seiten, die auf dem Tisch lagen, war ein leises.“ (338)

[Werbung, Rezensionsexemplar]

Infos zum Buch

Genre Roman
Verlag
C.H. Beck
Seitenzahl 396
ISBN 978-3406829-710
Erscheinungsdatum 29.01.2025

Vielen Dank an den C.H. Beckverlag für das Rezensionsexemplar!