Nicole Seifert – „Einige Herren sagten etwas dazu“ – Die Autorinnen der Gruppe 47
- Stephanie Schaefers
- September 20, 2024
- #diekanon, #kiwiverlag, #nicoleseifert, #weiblicherkanon
Es gibt eine Kernerzählung der Misogynie, und die lautet: Eine Frau, die zugleich schön und erfolgreich ist, die aufbegehrt, die Veränderungswillen und Macht zeigt, kann auf Dauer nicht bestehen, sie geht zugrunde. Erst dann ist die männliche Ordnung wiederhergestellt.
Etwas übertrieben? Wohl kaum, wie Nicole Seifert am Beispiel der Autorinnen der Gruppe 47 zeigt. Autorinnen, deren Namen und vor allem deren Werke heute unbekannt sind. Lediglich Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger sind bis in die Gegenwart im Literaturkanon vertreten und haben zu Lebzeiten innerhalb der Gruppe 47 ein gewisses Durchhaltevermögen bewiesen. Dennoch wurden sie von anderen schreibenden Personen (darunter auch Frauen), von der ausschließlich männlichen Literaturkritik und dem auch sonst männlich dominierten Literaturbetrieb nicht gleichberechtigt behandelt, sondern als integrierbare und vor allem begehrenswerte Frauen stilisiert. Ingeborg Bachmanns Biografie schließlich entspricht genau dem frauenfeindlichen Kernnarrativ: Eine allzu erfolgreiche Schriftstellerin wird tragisch untergehen.
„Geschlecht war nicht nur eine Kategorie der Literaturkritik, es war eine diskriminierende Kategorie, die ganz wesentlich über Erfolg und Misserfolg mitentschied.“ (27)
Die Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Nicole Seifert wirft einen sehr reflektierten und intensiv recherchierten Blick auf die Autorinnen der Gruppe 47. Sie geht dabei weitgehend chronologisch vor, beginnend mit den ersten Treffen der Gruppe, die bei Ilse Schneider-Lengyel zusammenkamen. Die überwiegend männlichen Gründer, allen voran der Generationen überdauernde Sprecher und Organisator der Gruppe, Hans-Werner Richter, berichteten später gern von ihrem großen Aufbruch ins Ungewisse und Transitorische neuer Texte und von der großen Sprachskepsis der Schreibenden. Wie wenig offen die Mitglieder der Gruppe jedoch agierten, zeigt Nicole Seifert, wenn sie konkrete Treffen der Gruppe schildert, zu denen junge Autorinnen eingeladen wurden, die dort zumeist frauenfeindliche Reaktionen und vernichtende Kritik erfuhren.
„Jünge Autorinnen wurden also zwar eingeladen (oft auf Hinweis von Walter Höllerer) und waren willkommen, ihren Texten, ihren Ansätzen, ihrer Kritik stand man als Gruppe aber alles andere als offen gegenüber.“ (257)
Nicole Seifert holt nach, was vor vielen Jahrzehnten versäumt wurde: Sie setzt sich intensiv mit den einzelnen Werken und dem Schreibstil der Autorinnen auseinander, die ihrer jeweiligen Zeit oft voraus waren. Seifert kristallisiert die vielen Ebenen des Unbewussten aus ihren Texten heraus, aber auch die konkrete Skepsis: die traumatisierte Psyche, die provokante Auseinandersetzung mit der jüngsten NS-Vergangenheit und dem Schweigen, aber auch Themen wie das Absurde des misslingenden Miteinanders der Geschlechter. In den 1950er und 1960er Jahren wurden diese Texte vom männlichen Literatururteil ohne inhaltliche oder ästhetische Bewertung vorschnell als ‚unlesbar‘, ‚uninteressant‘ oder ‚typisch weiblich‘ im Kontext der Aufrechterhaltung von Geschlechternormen kategorisiert. Im Vordergrund der Aufmerksamkeit stand vielmehr die Aura, die Erscheinung der Autorinnen – ihre Texte, ihre Talente und literarischen Verdienste zählten nicht, wurden marginalisiert oder schlimmer noch: kategorisch aus der öffentlichen Geschichte der Gruppe 47 getilgt.
Ruth Rehmann, Ingrid Bachér, Ilse Schneider-Lengyel, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Ingeborg Drewitz, Barbara König, Gabriele Wohmann, Gisela Elsner, Christine Koschel, Christa Reinig, Griseldis L. Fleming, Helga M. Novak, Elisabeth Borchers, Elisabeth Plessen, Barbara Frischmuth und Renate Rasp: Nicole Seifert befreit die Autorinnen der Gruppe 47 von einem rein männlichen Blick und den mystifizierenden, dämonisierenden Geschichten, die mit ihrem Schreiben selbst nichts zu tun hatten.
„Sie liegen in der kulturell tief verankerten Diskriminierung weiblichen Schreibens und darin, dass die entscheidenden Männer und Historiker der Gruppe sich für die Frauen selbst interessierten, nicht für deren Literatur. Immer wieder geht es um den Körper der Frauen und ihr Erscheinungsbild, sie werden als Raubtiere beschrieben, als Undine und Melusine, als Göttinnen, Königinnen, Hexen, in jedem einzelnen Fall geriet der Text in den Hintergrund, spielte überhaupt keine Rolle mehr.“ (260)
Nicole Seifert ist nach ihrer 2021 erschienenen FRAUEN LITERATUR ein weiterer augenöffnender Text über die männlichen Wirkmechanismen im (deutschsprachigen) Literaturbetrieb gelungen, die bis heute anhalten.
Die Gruppe 47 ist letztlich an sich selbst gescheitert, das lag auch an männlicher Selbstüberschätzung und mangelnder Bereitschaft, mit schreibenden Frauen in einen aktiven und wertschätzenden Austausch zu treten. So viel ist verloren gegangen, bedauert Nicole Seifert. Aber glücklicherweise stellt sie uns in „EINIGE HERREN SAGTEN ETWAS DAZU“ diese bedeutenden Autorinnen neu oder sogar erstmals vor und in einem umfangreichen Anhang auch die Primär- und Sekundärtexte der Autorinnen. Vielleicht ist doch nicht alles verloren.
[Werbung, Rezensionsexemplar]
Infos zum Buch
Genre Sachbuch
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Seitenzahl 352
ISBN 978-3462003536
Erscheinungsdatum 08.02.2024
Vielen Dank an den Kiepenheuer&Witsch Verlag für das Rezensionsexemplar!