Ljudmila Ulitzkaja – Alissa kauft ihren Tod
- Stephanie Schaefers
- November 20, 2024
- #autorin, #dtv, #erzählungen, #ljudmilaulitzkaja, #weiblicherkanon
Alissa, Shenja, Mussja, Sonja, Gulja, Nadeshda – um diese und viele andere starke Frauen kreisen die Erzählungen in Ljudmila Ulitzkajas ALISSA KAUFT IHREN TOD. Starke Frauen, die nicht ganze Gesellschaftsordnungen oder Regime stürzen, sondern in kleinen Genossenschaftswohnungen inmitten der rigiden Gesellschaftsordnungen Russlands oder fernab davon in westlichen Exilorten leben. Figuren, die sich von der vermeintlichen Peripherie aus in ihrem persönlichen Alltag, in ihrem Berufs-, Familien- oder Liebesleben gegen Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen und Einschränkungen behaupten müssen. Innerhalb der Mehrheitsgesellschaft sind sie Exot:innen, die ein gefährliches, weil sehr selbstbestimmtes Leben führen: Sie lieben andere Frauen oder gehören russischen Minderheiten an.
Männer, so sie denn vorkommen, sind mit diesen Frauen als fast animalische Geschöpfe durch ausufernde Untreue verbunden. Vertrauen und gegenseitige Ehrlichkeit gibt es nur mit weiblichen Gefährt:innen oder Freund:innen.
Kann ich mein Leben selbst bestimmen? Wer steht mir dabei zur Seite? Wem kann ich vertrauen? Das sind Kernfragen, die sich durch alle Erzählungen ziehen. So stark und mutig, so unerschütterlich und standhaft, so trinkfest und kampfbereit die Figuren auch sein mögen, letztlich fürchten sie alle das Alleinsein, den Ausschluss aus der Gemeinschaft und die Endlichkeit des Lebens. Aus gelebter Erfahrung – oft befinden sich die Figuren bereits in der fortgeschrittenen zweiten Lebenshälfte – wissen sie genau, was Glück, Zuwendung und Liebe bedeuten, tiefe Enttäuschungen und Verletzungen eingeschlossen, aber Träume und Sehnsüchte haben sie sich bewahrt.
„eine Königin kennt keine Abhängigkeit von der Meinung anderer. Nun aber war sie aufgeregt und ärgerte sich deshalb über sich selbst“ (45)
Ljudmila Ulitzkajas Erzählungen lassen sich als unaufgeregt tragisch beschreiben und wirken durch ironisch-humorvolle Dialoge und empathisch gezeichnete Figuren, auf die immer wieder auch unerklärliche Kräfte von Natur und Mythos einwirken, sehr lebensnah. Selten gibt es große dramatische Handlungsstränge, aber der Autorin gelingt es meisterhaft, ein ganzes Leben auf wenigen Seiten zu verdichten und durch geschickt gesetzte Wendepunkte sowohl die darin vorkommenden Figuren als auch die Leser:innen zu überraschen. Sehr lesenswert!
„bist du eine orientalische Frau oder eine westliche? Wenn du eine Orientalin bist, dann lass dich nicht scheiden, und wenn du eine westliche Frau bist, dann nimm dir einen Liebhaber und mach daraus kein Problem.“ (104)
[Werbung, eigenes Exemplar]
Infos zum Buch
Genre Erzählungen
Verlag dtv
Seitenzahl 304
ISBN 978-3423148-788
Erscheinungsdatum 14.09.2023