Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte
- Stephanie Schaefers
- Oktober 9, 2024
- #diekanon, #herkunftsgeschichte, #romandebüt, #weiblicherkanon
Alev kennt kaum die Geschichte ihrer Familie. Eine Familie, die verstreut und zerrissen ist, die verschiedene Blickwinkel, Stimmen und Sprachen hat. Eine Familie, in der bisher vor allem das Gebot des Schweigens über die alevitische Vergangenheit galt. Bis zu jenem Tag im Jahr 2017, an dem Alevs Onkel Cem ins Koma fällt und alle Familienfäden zu reißen drohen.
Denn Cem ist wie eine Konstante für die Familie. Eine Familie, die aus Hacibektaş nach Ankara fliehen musste und deren Kinder bald weder über ihr Dorf noch über die frühen Verlust der Mutter sprechen konnten. Cem, der später bei Vater Ahmet und Großmutter Hatun Ebe in Ankara blieb, während erst sein älterer Bruder Hüsnu und dann sein jüngerer Bruder Mithat nach Deutschland gingen. Es ist Cem, der mit Erfolgswillen, einer Portion Glück und seiner starken Frau Selen, auch in der Türkei den sozialen Aufstieg schafft, der die nahen wie fernen Verwandten unterstützt, in dessen großem Haus in Istanbul alle zusammenkommen. Als Cem im Jahr 2010 verhaftet wird, unter dem sich wandelnden türkischen Regime seine persönliche und finanzielle Freiheit verliert, wird der ganzen Familie erneut bewusst, dass sie seit Generationen politischer Willkür ausgesetzt ist.
Immer wieder kehren auch Alevs Erinnerungen zu ihrem Onkel Cem zurück. Zu den Sommerferien, in denen ihr trotz der familiären Herzlichkeit bewusst wird, dass sie zu wenig Türkisch spricht, um sich der Familie und dem Herkunftsland ihres Vaters Mithat unbefangen zu nähern.
„Etwas erschloss sich ihr nicht, und es war dieser Punkt vor sieben Jahren, wie ein blinder Fleck, von dem ihr Vater sie fernhielt oder bewahren wollte“ (98)
Lelya Bektaş verwebt ihren Debütroman zu einem fein konstruierten Erzählmosaik, das mühelos zwischen Zeiten, Orten und Figuren springt. Ein Debütroman, der gekonnt große Themen wie die politischen Revolutionsbewegungen und Regimewechsel in der Türkei und den damit verbundenen Umgang mit kulturellen Minderheiten, aber auch hart erkämpfte Aufstiegs- und Bildungswege und bedingungslose Geschwisterliebe über Ländergrenzen hinweg umkreist. In zyklischen Bewegungen kehrt das Geschehen zu Alev zurück. Alev, die trotz doppelter Staatsbürgerschaft nach Zugehörigkeit sucht:
„Die meisten Menschen würden sagen, der Plural sei Reichtum. Alev hatte manchmal den gegenteiligen Eindruck. Der Plural war ein Defizit. Sie sehnte sich nach einer Geschichte. Nur einer. Einer Geschichte, die sich anderen direkt erschloss, einer Geschichte, die keine weiteren Fragen oder Erklärungen nach sich zog.“ (142)
Alev, die – ob in Köln, Istanbul oder Mexiko City – unter ständigem Heimweh leidet. Und deren Fragen weitere Schichten ihrer Familie freilegen, zu Geschichten führen, die endlich erzählt werden müssen.
WIE MEINE FAMILIE DAS SPRECHEN LERNTE ist ein einfühlsamer, dicht an seinen Figuren angelegter Mehrgenerationenroman, der zugleich von der verborgenen Geschichte und Diskriminierung der türkischen Aleviten erzählt.
„Niemand kennt unsere Geschichte. … Es ist keine bekannte Geschichte, weißt du. Niemand hat sie je aufgeschrieben. Aber es ist unsere Geschichte. (…) ich schenke dir meinen Teil der Geschichte“, sagt Cem zu seiner erwachsenen Nichte Alev.
Ich sage „Danke“ an Leyla Bektaş, dass sie uns diese Geschichte schenkt, dass sie in ihrem Roman so viele verschiedene Erzähltüren öffnet, verschwiegene Leerstellen füllt und kollektive Erinnerungsräume schafft, die sonst verschlossen blieben.
[Werbung, Rezensionsexemplar]
Infos zum Buch
Genre Roman
Verlag Nagel & Kimche
Seitenzahl 320
ISBN 978-3312 013340
Erscheinungsdatum 02.10.2024
Vielen Dank an den Verlag Nagel & Kimche für das Rezensionsexemplar!