Laura Lichtblau – Sund

„Ob ich jetzt endlich aufhören würde, Fantasiegeschichten aus Dänemark zu erzählen anstatt von meiner Familie“ (111)

An einem Sund, einer dänischen Meerenge mit einer vorgelagerten Insel namens Lykke (=Glück), sehnt sich die Ich-Erzählerin nach ihrer Geliebten. Sie sind getrennt, weil sich das Ich an diesem Ort mit der NS-Vergangenheit ihres Urgroßvaters verbinden will. Sie wird eins mit der sie umgebenden Landschaft, betritt schließlich mit einer anderen „Neuen“ die Insel Lykke.

„Die Insel erscheint uns wie ein Märchen: Seefahrt und Wunder und Verrat und Gesang und viele, viele Anekdoten.“ (35)

Das Verhalten der geheimnisvollen, scheinbar immer glücklichen Inselgemeinschaft wandelt sich nach anfänglich freundlicher Aufnahme in rigide Ablehnung. Die Neuankömmlinge übersehen bald nicht mehr die Bunker der Insel und entfesseln die dort lange verborgenen Taten gegen vermeintlich „andere“ Menschen.

„Es ist das Umkreisen von Lücken, die nach dem Krieg geschaffen wurden. (…) Am Ende entsteht etwas wie ein Bild, dessen Ränder verbürgt sind. Das Zentrum, die Lykke, bleibt eine Ahnung.“ (104)

Aus dieser Lykke/Lücke heraus erkennt die Ich-Erzählerin Parallelen zu den dunklen Geheimnissen ihrer eigenen Familiengeschichte. Was erzählen die toten Eichen im moosgrünen Album des Urgroßvaters, der nach Kriegsende offiziell als „entnazifiziert“ galt? Beleben sie nicht Thesen vom Verfall arischer Stammbäume und offenbaren sie nicht das urgroßväterliche Mitwirken an Gesetzen zur „Ehegesundheit“ und „Verhütung erbkranken Nachwuchses“?

Laura Lichtblau hat mit ihrem zweiten Roman SUND einen schwebenden, poetischen Text geschrieben, der sich durch ein generationsübergreifendes Unbehagen tastet. Das Erzählen wirkt wie ein Übersetzen in lyrische Vergleichsbilder, verliert jedoch nie den Bezug zu einer konkreten Realitätsebene. Die Gefühle und Gedanken der Ich-Erzählerin scheinen sich zu materialisieren und lebendige Gestalt anzunehmen. So kann die Ich-Erzählerin mit ihnen in Kontakt treten und die Lücken der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart reichen, befragen und beschreiben. Angstfrei kann sich die Erzählerin in dem von ihr geschaffenen Raum bewegen und zweifelt bald selbst nicht mehr an dessen Existenz. Der Aufbau des Textes in viele Versatzstücke und die eingeflochtenen Störbilder brechen jedoch bewusst mit einem harmonischen Ganzen.

Überaus klar und schnörkellos sticht daher auch der fast dokumentarische Teil des Textes hervor, in dem über den Urgroßvater berichtet wird. Hier will die Autorin keinen märchenhaften Nebel, keine schwebenden Uneindeutigkeit, sondern Fakten.

Für mich ist SUND ein äußerst spannendes Textexperiment, in dem das Selbstverständliche nur um eine Nuance verfremdet wird und dann klarer, aber auch erschreckender und bedrohlicher wirken kann. Die Autorin erzählt, wie sich Traumata in Räume, in Menschen einschreiben, oberflächlich verschwiegen und vergessen werden können, um dann umso weiter ihren Schlund (Sund) zu öffnen und Einblick in ihr tiefes Grauen zu geben.

„Die Geister singen weiter. Sie schweigen, sie grölen. Verschwinden werden sie nicht.“ (103)

[Werbung, Rezensionsexemplar]

Infos zum Buch

Genre Roman
Verlag
C.H.Beck
Seitenzahl 130
ISBN 978-3406813771
Erscheinungsdatum 15.02.2024

Vielen Dank an den C.H.Beck Verlag für das Rezensionsexemplar!