Begleitet von rauen Aprilwinden erreicht Marlene eine kleine Nordseeinsel. Auf diesem Eiland, das aus Deichen, Salzwiesen und Watt besteht, wird sie den Sommer als Saisonarbeiterin in einem nostalgisch nachgebauten Dorf verbringen. Marlene will Hamburg hinter sich lassen, Abstand nehmen von ihrem Studienabschluss, von einer ernsthaften Jobsuche und von ihrer Beziehung zu Paul.

Das künstliche Inseldorf spiegelt eine zwiespältige Scheinwelt wider: Nach vorne glänzt es für die zahlenden Gäste mit inszenierten Manufakturen und einem stets freundlichen Dorfcharme, während sich hinter der Kostümgrenze trostlose Baracken für die Saisonarbeiter:innen befinden und auch die ursprünglichen Insulaner:innen vom Dorfbetreiber Weert abhängig zu sein scheinen.

Marlene begegnet dem Inseltreiben mit einer Mischung aus unvoreingenommener Neugier und gewisser Skepsis. Als aufmerksame Beobachterin und Zuhörerin nimmt sie bald Unschärfen und Heimlichkeiten wahr. Besonders fasziniert ist Marlene von Janne, die auf der Insel geboren wurde, fast organisch mit ihr verwachsen scheint und die als Einzige unangepasst wirkt. Von der ersten Begegnung an, fühlt sich Marlene von Janne angezogen.

Gekonnt und spannungsreich verwebt Kristin Höller in LEUTE VON FRÜHER im Setting eines norddeutschen Inselromans eine queere Love-Story mit Schauerromantik Elementen und Coming-of-Age-Fragen. Der Roman besticht durch seine kantig-liebvoll gezeichneten Figuren, die als zögernde, verschlossene und durch unterschiedliche Prägung gezeichnete Menschen beschrieben werden. Die Insel ist nicht nur durch ihr inszeniertes Dorfleben, sondern auch durch ihre räumliche Abgeschiedenheit und durch ihre vermeintliche Abhängigkeit von Klima und Wetter ein atmosphärisch aufgeladener Handlungsort. Von Anfang an ist eine vielschichtige Bedrohung des Verschwindens präsent.

„besonders in den letzten Tagen war es ihr vorgekommen, als schwebte die Insel im Nichts, als gäbe es nur das Dorf und die Baracken und sonst keinen anderen Ort auf der Welt“ (182)

Sehr gerne habe ich von der zarten und zerbrechlichen Liebe zwischen Marlene und Janne gelesen und mich mit ihnen auf die Spurensuche nach überlieferten Traditionen, auferlegten Bürden und der eigenen Herkunft und Bestimmung begeben. Sehr stimmig und fesselnd erzählt!

[Werbung, Rezensionsexemplar]