Julia Franck – Welten auseinander
- Stephanie Schaefers
- August 2, 2024
- #autofiktion, #juliafranck, #roman, #sfischer
Zwei Vögel im Sturzflug, der hintere hält sich am Bein des vorderen fest. Sind sie im Liebesspiel oder im Kampf miteinander verbunden? Drohen sie gemeinsam am harten Boden zu zerschellen oder werden sie bald wieder friedlich zu zweit oder getrennt durch die Lüfte gleiten?
Auch wenn die Autorin Julia Franck das Titelbild von WELTEN AUSEINANDER vielleicht nicht persönlich ausgewählt hat, so passt es doch sehr gut zu ihrem Text, der für mich wie ein wilder Flug durch eine prall gefüllte ost-westdeutsche Zeit- und Lebensgeschichte war. Mir wurde fast schwindelig von den rasanten, schmerzhaften Erinnerungsschleifen durch verschiedene deutsch-jüdische Biografien einer Familie, immer wieder unterbrochen von märchenhaft-kraftvollen Schwebephasen außergewöhnlich starker Künstlerinnenschicksale.
Ein Text, der mir gezeigt hat, wie Familien über Generationen hinweg in ihrem Handeln und Fühlen verbunden sind, auch wenn sie räumlich auseinanderstreben. Ein Text, in dem das Wort ‚Selbst-Bewusstsein‘ für mich eine neue Dimension gewonnen hat.
„Das Mädchen begreift, dass es spätestens jetzt verschwinden muss. Es kann dort im Zwischenraum der auseinandergehenden Familien nicht mehr sitzen und wohnen bleiben. Es ist keine Seite und kein Platz für das Mädchen vorgesehen.“ (234)
Im Mittelpunkt steht die Biografie der Ich-Erzählerin Julia. Ihre Nomadenkindheit beginnt, als die Mutter 1978 mit ihren vier Töchtern aus der DDR flieht, sie zunächst in einem engen Aufnahmelager, dann in einem chaotischen Bauernhaus in Schleswig-Holstein leben. Die 8-jährige Julia leidet darunter, nicht anzukommen und ständig auf sich allein gestellt zu sein. Ihre Suche nach Halt, Ablösung und Rückzug – auch von der Zwillingsschwester – führt sie als 13-Jährige in Pflegefamilien, in WGs, zum leiblichen Vater nach West-Berlin, unterbrochen von Sommerferien im blauen Haus auf dem Darß bei der Großmutter oder bei ihr in Ost-Berlin. Als Abiturientin gelingt Julia endlich ein kurzes Innehalten, ein Gefühl des Ankommens bei Mitschüler Stephan, der fremd und nah zugleich sein kann.
„Unsere Erfahrungen lagen Welten auseinander, wie konnte es da zu einer Sprache kommen, in der wir mit denselben Worten auch nur annähernd etwas Ähnliches hätten meinen und uns vorstellen, sagen und verstehen können. Uns das Fremde am anderen vertraut machen. Wir konnten.“ (144)
Doch es folgt der Verlust dieser ersten, tiefen Liebe … aus der aber die Erkenntnis erwächst, dass das Ich ohne diese auseinanderdriftende Welterfahrung, vielleicht nie zum Schreiben gefunden hätte.
„Die kaum erzählbare Kindheit bleibt zurück. Manches davon erzähle ich Stephan. Mit ihm lerne ich Sprechen.“ (191)
Julia Franck hat ihre verzweigte Familiengeschichte bereits in vielen ihrer vorherigen Romane und Erzählungen verarbeitet, doch in WELTEN AUSEINANDER führt sie alle Stränge ihrer Herkunftsgeschichte zusammen und seziert vor allem die prägenden Gefühle von Scham und Fremdheit, die sie zeitlebens mit sich getragen hat.
„Meist aber schämte ich mich allein für mich selbst. Schwäche spürte ich, ich konnte die Verhältnisse und Gewalt darin nicht ändern. Je länger ich zwischen diesen Welten lebte und die eigene Fremdheit und Verwahrlosung spürte, desto schlimmer wurden meine Albträume, meine Schlaflosigkeit und das Bewusstsein dafür, dass ich keinen Platz in diesem Hier hatte.“ (165)
Ein erschütternder Selbstfindungstext, in dem Julia Franck zeigt, dass nicht nur große französische Autor:innen die Erzählkunst der Autofiktion beherrschen. Beeindruckend war für mich die große Reflektiertheit und Distanz, – manchmal wechselt sie von „Ich“ zu „das Mädchen“ – die die Autorin dadurch zu dem autobiografisch Beschriebenen einnehmen konnte, wie wenig Groll oder Trauer über all den widerfahrenen Schmerz durchklingt, sondern ein nüchternes Verständnis für das Handeln und Verhalten der einzelnen Familienmitglieder, insbesondere gegenüber der Mutter.
„Wie sie uns eine Fremde geblieben ist, sind auch wir ihr Fremde geblieben. Absichtslos, es war kein böser Wille.“(117)
Ein Text, der mich in seiner Konstruktion und dramatisch-erzählerischen Dichte sehr beeindruckt hat! Große Leseempfehlung!
„Wer wird schon mit einer Identität geboren? Eher wachsen wir in die Gesellschaft und Verantwortung hinein. Wer könnte seine Identität selbst bestimmen? Vielleicht bin ich Aussiedlerin geblieben? (74)
[Werbung, eigenes Exemplar]
Infos zum Buch
Genre Roman
Verlag S. Fischer
Seitenzahl 368
ISBN 978-359603-3997
Erscheinungsdatum 29.03.2023