Judith Hermann – Wir hätten uns alles gesagt

Es ist eher selten, dass eine Autorin offen ausspricht, wie nah sie an der Realität entlang schreibt, dass ihre Figuren Versionen ihrer selbst sind und dass sie sich eine Verbindung zwischen Autorin und Werk nicht verbietet. „Ich schreibe über mich. Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht“, offenbart Judith Hermann in WIR HÄTTEN UNS ALLES GESAGT, ihrer Frankfurter Poetikvorlesung aus dem Jahr 2022, die nun in gedruckter Form vorliegt.

In ihren poetologischen Überlegungen macht Judith Hermann deutlich, dass Autorin und erzählendes Ich nie komplett übereinstimmen. Der reale Kern bewegt sich im Prozess des Schreibens, zieht Kreise um sich selbst, mal in kleinerer, mal in größerer Distanz zum schreibenden Ich, zur eigenen Familie oder zu anderen realen Personen. Im Prozess des Erinnerns wie des Erzählens verändern sich diese Kreise durch Brechungen, Verzicht und Verschweigen, ziehen neue Radien, gewinnen neue Freiheiten. Neue Möglichkeitsräume, Schwebezustände oder Sehnsuchtsgefühle tun sich auf.

„Ich weiß etwas über die Figuren einer Erzählung, wenn ich sie schreibe, im Grunde weiß ich alles: Geburt, Herkunft, Kindheit, Jugend, Alter und Geheimnis, aber es ist in keiner Weise notwendig, das zu konkretisieren, im Gegenteil. Es stört. Es verhindert den Blick aufs Wesentliche, die Konzentration auf den Augenblick.“ (42)

In ihrer Frankfurter Poetikvorlesung gibt Judith Hermann Einblicke in ihr eigenes Schreiben und in ihr sehr intimes Weh und Leid. Sie spricht über das Entstehen und Entwickeln ihrer Figuren und über den oft unerzählten Kern ihrer Literarisierungen, der sich aus erzählenden Momenten mit vermeintlich realen Personen entstanden ist, doch schließlich in veränderter Form und Materialität in ihre Texte eingeht und ihnen eine eigene Seele verleiht.

„Wer bin ich, woher komme ich, inwieweit kann ich mich von den Anfängen entfernen, darf ich sie vergessen, oder muss ich sie erst schreiben und darf sie dann vergessen. Ich bin, habe ich vor über fünfundzwanzig Jahren… getippt, nicht sicher. … und ich bin das auch jetzt, hier und jetzt: Nicht wirklich sicher.“ (186)

Aus Hermanns Ausführungen geht deutlich hervor: In der Literatur geben sich alle Seiten zu jeder Zeit einem trügerischen Ordnungssystem von Wirklichkeit hin und formen daraus einen wunderbaren Konjunktiv. Auch in einer Poetikvorlesung.

Sehr lesenswert!

[Werbung, Rezensionsexemplar]

Infos zum Buch

Genre Autofiktion
Verlag
S. Fischer Verlag
Seitenzahl 192
ISBN 978-3103975109
Erscheinungsdatum 15.03.2023

Vielen Dank an den S. Fischer Verlag und Vorablesen für das Rezensionsexemplar!