Jane Campbell – Bei aller Liebe
- Stephanie Schaefers
- August 19, 2024
- #debütroman, #diekanon, #janecampbell, #kjona, #liebe, #trauerbuch
Agnes, immer wieder Agnes, so viele Gedanken, Gefühle und Beziehungsgeflechte kreisen nur um sie.
Spannenderweise lässt die Autorin Jane Campbell ihre Hauptfigur erst im dritten Kapitel ihres neuen Romans selbst die Perspektive einnehmen. Zuvor erfahren wir aus der Sicht von Agnes‘ Onkel Malcolm, wie Agnes‘ Eltern bei einem tragischen Unfall ums Leben kamen, als sie noch sehr klein war. Am Tag ihres Todes gab Agnes‘ Mutter Sophy ihrem Bruder einen Brief, den er einem gewissen Joseph Bradshaw aushändigen sollte. Nach Sophys Tod liest Malcolm den Brief und erfährt, dass Sophy eine für sie unvergessliche Kriegs- und Liebesnacht mit Joseph verbracht hat und dass Joseph Agnes‘ Vater ist. Malcolm gibt den Brief weder dem unbekannten Joseph noch seiner Nichte.
Heute – 50 Jahre später und am Tag der Hochzeit von Agnes‘ Tochter – will Malcolm in doppelter Hinsicht mit der Vergangenheit aufräumen, denn zufällig wird auch Joseph unter den Hochzeitsgästen sein. Nun wechseln wir in die Perspektive von Joseph, der vor Jahren Agnes‘ Therapeut war, und erhalten so einen anderen Blick auf das Vergangene. Agnes erinnert Joseph – für uns nicht überraschend – an seine ebenfalls früh verstorbene Mutter. Auch er möchte am Hochzeitstag ein intimes Gespräch mit Agnes führen. Am Tag der Feier sind wir dann erzählerisch ganz nah bei Agnes, auch sie trägt bisher Unausgesprochenes mit sich. Die Rückkehr nach Lippington House – Ort der Feier – ist für sie in doppelter Hinsicht belastend.
„Ich kann nicht mehr ändern, was damals passiert ist. Nein, nichts von alledem kann ich heute noch ändern. Nur die Art und Weise, wie ich darüber nachdenke, mich daran erinnere. Es ist geschehen. Ich muss mir die Traurigkeit eingestehen. Und die Scham. Und die Zerknirschung. Und die Wut. Und ich muss mutig sein.“ (104)
Jane Campbell baut ihren Roman BEI ALLER LIEBE sehr komplex auf: Während die Erzählzeit chronologisch voranschreitet und sich punktuell an verschiedenen Festen von Agnes‘ Familie abspielt – es folgen eine Taufe und eine Trauerfeier -, springt das Erzählte in den einzelnen Kapiteln immer wieder in die jeweilige Vergangenheit zurück. Die verschiedenen Figuren verweilen nie lange im Jetzt, sondern befragen sich und ihre sehr unterschiedlichen Erinnerungen beständig selbst.
Trotz der unübersichtlich wirkenden Figurenkonstellationen – es kommen noch weitere Querverbindungen hinzu – kristallisieren sich sehr schnell zentrale Fragen heraus: Können wir unseren Erinnerungen trauen? Wann können wir die Vergangenheit ruhen lassen?
„das ist nicht meine Erinnerung, sondern seine. Ganz und gar seine. Wie kann ich meiner Erinnerung trauen, wenn sie Lücken mit Erfundenem füllt? Dabei sehe ich es so deutlich vor mir.“ (117)
„Die große Lektion des Alters. Nicht zurückblicken, jedenfalls nicht zu viel.“ (175)
Jane Campbells erster Roman besteht aus vielen Rückerinnerungen und analytischen Gesprächen, so dass die Handlungsebene stark in den Hintergrund tritt, was das Miterleben und Mitfühlen all der behandelten Themen nicht einfach macht. Malcolm, Joseph und Agnes haben frühe Verluste erlitten, ihre unverarbeitete Trauer begleitet sie ihr Leben lang und macht ihnen so ein eigenes Lebensglück fast unmöglich. Tröstlich ist zumindest: Im Rückblick wird ihnen eine wichtige Lektion des Lebens und Alters deutlich, nämlich dass auch aus unvollkommenen und ungeplanten Beziehungen Glück und Halt erwachsen können.
So kratzbürstig, direkt und handlungsorientiert mir die lebenserfahrenen Protagonist:innen in KLEINE KRATZER erschienen und so humorvoll und zugleich grimmig, sie von ihrem Lebensunglück und ihren Versehrtheiten erzählt haben, so angestrengt selbstdeutend und zugleich unbedingt versöhnungsbereit erscheinen mir die Figuren in BEI ALLER LIEBE.
Ein Roman, der mich in seiner Konstruktion und seinem Grundanliegen sehr überzeugt hat, bei dem mich die beständig psychologisierenden Figuren weniger erreicht haben. Keine Frage aber, dass Jane Campbell wunderbar figurennah erzählen kann, ich bleibe bis auf weiteres großer Fan ihrer kurzen Erzähltexte!
Übersetzung: Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
[Werbung, Rezensionsexemplar]
Infos zum Buch
Originaltitel Interpretations of Love
Genre Roman
Verlag Kjona
Seitenzahl 240
ISBN 978-3910372313
Erscheinungsdatum 19.01.2024
Vielen Dank an den Kjona Verlag und die Agentur Kirchner Kommunikation für das Rezensionsexemplar!