Irmgard Keun – Nach Mitternacht

Wir begleiten die 19-jährige Sanna durch einige kurze Tage und eine sehr lange Nacht in Frankfurt. Sanna bummelt mit ihrer Freundin Gerti durch Geschäfte, trifft sich mit Verehrern im Straßencafé, bestaunt mit Nachbarn einen pompösen Umzug und zieht abends mit ihrem Schriftsteller-Bruder Algin, dem ehemaligen Journalisten Heini und anderen Herren durch verrauchte Weinlokale. Während Sanna mit den Vorbereitungen für ein großes Fest beschäftigt ist, zu dem ihre Schwägerin Liska alle eingeladen hat, taucht plötzlich ihr Vetter Franz auf. Der stille, samtig-sanfte Franz. Mit ihm hatte Sanna vor Monaten in Köln eine zarte Liebesbeziehung, doch dann verließ sie ihn.

„Er reichte mir den Koffer in den Zug, ich sprach nicht mit ihm. Als der Zug fuhr, sah ich aus dem Fenster, ohne zu winken. Einsam und traurig sah ich den Franz auf dem Bahnsteig stehen.“ (98)

Klingt unspektakulär? Unerwähnt blieb bisher, dass sich all dies mitten in Deutschland abspielt, kurz nach 1935. Es ist erschütternd, wie ‚normal‘ Sannas Leben und das der sie umgebenden Menschen verläuft. Zumindest, wenn sie nicht jüdischer Abstammung sind. Jüdische Freunde und Nachbarn leiden schon lange unter Verboten und öffentlichen Anfeindungen, die sich nach und nach auf viele andere Menschen ausweiten, die vom NS-Regime als ‚deutschfeindlich‘ eingestuft werden. Aber noch haben Antisemitismus und NS-Terror nicht ihren Höhepunkt und ihre ganze Perfidie erreicht. Doch die Zeit läuft unaufhaltsam weiter. Auch für Sanna und Franz und die anderen ihnen nahestehenden Menschen. Bis NACH MITTERNACHT nichts mehr so sein wird, wie es einmal war.

„Wie spät ist es? Gleich nach Mitternacht. Wie? Um ein Uhr nachts fährt ein Zug? Mit dem müssen wir fahren. Was muß noch geschehen (…)?“ (187)

Durch die unvoreingenommenen Augen der Ich-Erzählerin Sanna verfolgen wir einen zunächst gewöhnlichen Tag im nationalsozialistischen Deutschland, der jedoch immer dramatischere Wendungen nimmt. Sanna, die aus provinziell-kleinbürgerlichen Verhältnissen stammt, bewegt sich in den liberal-künstlerischen Kreisen ihres Bruders und wundert sich über das, was sie alles sieht und fühlt. Sannas klarer, unverstellter Blick, der nicht wertet, verschweigt oder verfälscht, demaskiert die Schrecken des Alltags.

Ein Alltag, in dem willkürliche Denunziationen und Misstrauen unter Nachbarn und Familienangehörigen an der Tagesordnung sind, in dem politische Meinungen – sofern sie nicht nationalsozialistisch sind – nur heimlich in dunklen Weinstuben geäußert werden können.

„Drei Schreibmaschinen klappern im Zimmer – unaufhaltsam, unentwegt. Unaufhörlich kommen Leute, die jemanden anzuzeigen haben. Man meint, dies schäbige Gestapo-Zimmer hier sei der Sammelplatz für ganz Köln geworden.“ (90)

Irmgard Keuns NACH MITTERNACHT liest sich leicht und humorvoll, doch in der Figur der Sanna und ihrer vermeintlich ahnungslosen Weltsicht bringt die Autorin eine sarkastische Ironie, entlarvende Weitsicht und tiefe Verzweiflung zum Ausdruck und bietet eine bis dahin unbekannte weibliche Perspektive auf die NS-Diktatur und die damit verbundenen Frauenrollen.

„Damals bei der Tant Adelheid war ich ja noch viel dümmer als heute. Aber auch damals hatte ich schon eine Todesangst, jemand könnte merken, daß ich nichts verstehe.“ (85)

NACH MITTERNACHT beendete Irmgard Keun 1937, als sie bereits ins belgische Ostende geflohen war. Ein wichtiger Beitrag zur Exilliteratur, der damals im Querido-Verlag in Amsterdam veröffentlicht werden konnte.

Ein unglaubliches Zeitdokument, das auch heute noch von großer Aktualität ist.

„Wir leben nun mal in der Zeit der großen deutschen Denunziantenbewegung. Jeder hat jeden zu bewachen, jeder hat Macht über jeden. Jeder kann jeden einsperren lassen. Der Versuchung, diese Macht auszuüben, können nur wenige widerstehen. Die edelsten Instinkte des deutschen Volkes sind geweckt und werden sorgsam gepflegt.“ (133)

Absolute Leseempfehlung!

[Werbung, eigenes Exemplar]

Infos zum Buch

Genre Roman
Verlag
Claassen
Seitenzahl 208
ISBN 978-3546100342
Erscheinungsdatum 27.01.2022
Ersterscheinung 1937