Elizabeth O’Connor – Die Tage des Wals

Eine kleine, Insel vor der walisischen Küste im Jahr 1938. Zerklüftete Klippen in schäumenden Wellen. Ständig ballt der Wind hier seine Faust, bestimmt die raue Natur das Leben von Mensch und Tier.

Zwölf Familien leben noch auf der Insel, es gibt mehr leere Häuser als bewohnte. Sie fischen Hummer, hüten Schafe und teilen an dunklen Abenden Geschichten ihrer Vorfahren, die ihnen Wissen über die Geschicke und Ungeschicke des Daseins erzählen. Nachrichten über den aufkommenden Krieg beschäftigen sie nur, weil sie dann für ein Land, für das sie nichts empfinden, als Soldaten eingezogen werden. Sonntags treffen sie sich in ihrer kleinen Inselkirche, doch ihr Glaube gilt der Macht des Meeres, das gibt und nimmt.

„Über Nacht rissen die Wellen zwei Schafe von der Steilküste weg. Ein paar Boote kehrten nicht zurück, und Frauen reihten sich im Leuchtturm auf, um die Funksprüche der Küstenwache mitzuhören. Von ihrem Atem beschlugen die Scheiben.“ (129)

Eines Tages gibt das Meer der Insel einen gestrandeten Wal. Ein Jahr wird es dauern, bis er verschwunden ist. Ein Jahr, über das die Ich-Erzählerin Manod erzählt. Sie lebt mit ihrem Vater Tad und der jüngeren Schwester Llinos im Rose Cottage. Gerade hat die 18-Jährige die Schule auf dem Festland abgeschlossen, spricht als eine der Wenigen sehr gutes Englisch. Manod will nicht für immer auf der Insel bleiben, sie will nicht enden wie ihre Mutter, die ins Wasser ging.

„ich hatte Mädchen erlebt, die mit sechzehn heirateten, mit zwanzig mehrere Kinder hatten, mit fünfundzwanzig vom Meer verwitwet wurden, ausgelaugt und verloren.“ (87)

Die Ankunft der Ethnologen Joan und Edward, die zeitgleich mit dem rätselhaften Wal auf der abgelegenen Insel erscheinen, deutet Manod daher als Zeichen. Die beiden Forscher, nehmen Schallplatten mit Liedern und Geschichten in der Insel-Sprache auf, fotografieren ihre Stickereien und Gebräuche. Manod arbeitet für sie als Übersetzerin. Obwohl sie gebannt Joans Berichten aus der weiten Welt jenseits der Küste lauscht und hofft, mit ihr und Edward auf dem Festland zu leben, kommen Manod Zweifel an der Art, das Ursprüngliche der Insel und ihren traditionsbewussten Alltags einzufangen.

„Für mich war nicht nachvollziehbar, wie sie über die Insel sprach. Ich kannte nur den Kummer des Meeres, keine Liebe. Nur die Notwendigkeit zu retten, Boote, die in einem Sturm ausliefen, Frauen, die sich im Leuchtturm zusammendrängten. Sie hatte kein Recht, dieses Bild von der Insel mitzunehmen. Es jenseits der Grenzen des Meeres zur Schau zu stellen.“ (174)

Elizabeth O‘Connor erzählt in ihrem Debütroman von einem aus der Zeit gefallenen Mikrokosmos, der vom großen (Kriegs-)Weltgeschehen des 20. Jahrhunderts nicht unberührt bleibt. Aus dem starren Inselleben pulsieren deutlich die stillen Sehnsüchte Manods hervor, die die britische Autorin in ihrer reduzierten Sprache vielschichtig mit Metaphern von Untergang und Aufbruch verwebt.

Spannend ist ihr erzählerisches Vorgehen, die unmittelbare, subjektive Perspektive Manods durch wissenschaftlich formulierte Transkripte der Ethnologen zu erweitern, die wiederum die archaischen Sagen und Lieder der Insel beschreiben.

Ein brillant schlicht wie kunstvoll gestalteter Roman, der zum Nachdenken über Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie Konflikte realer und erschaffener Welten anregt.

Übersetzung: Aus dem Englischen von Astrid Finke.

[unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar]

Infos zum Buch

Originaltitel Whale Fall
Genre Roman
Verlag
Karl Blessing Verlag
Seitenzahl 224
ISBN 978-3896677532
Erscheinungsdatum 15.05.2024

Vielen Dank an den Blessing Verlag für das Rezensionsexemplar!