Annie Ernaux – Die Jahre
- Stephanie Schaefers
- Juni 20, 2024
- #annieernaux, #autofiktion, #diekanon, #literaturnobelpreis, #suhrkamp
Eine Sammlung scheinbar zufällig angeordneter Bilder eröffnet DIE JAHRE. Kurz aufflackernde Erinnerungen, im persönlichen Gedächtnis abgelegt, die aus kindlichen Beobachtungen oder Reiseeindrücken bestehen. Daneben stehen Erinnerungen medial vermittelter Bilder, aus Fernsehen oder Werbung, die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt und mit ihrer ikonischen Kraft das Selbstverständnis ganzer Epochen, Nationen und Generationen geprägt haben.
Das Dilemma dieser Sammlung? Sie existiert noch, aber sie ist in einem Auflösungsprozess, wird täglich neu gefiltert, hat keine Dauer. Ein Leben verblasst, viele Leben, ganze Dekaden werden vergessen.
Wie sehen sie aus, die Bilder, die Erinnerungen, die einen Menschen über Jahre, Jahrzehnte, ja, über ein halbes Jahrhundert prägten? Wie formten sie diesen einen Menschen und zugleich ganze Generationen? Wie können wir uns in eine gelebte Vergangenheit zurückversetzen, die historische Distanz der Jetztzeit überspringen, aber diese mit reflektieren?
Fragen, um die das Schreiben von Annie Ernaux beständig kreist und für die sie in DIE JAHRE, das in Frankreich 2008 erschienen ist, ihre persönliche Entsprechung gefunden hat.
Anhand von sechzehn persönlichen Foto- und Filmaufnahmen erzählt Ernaux ihre Herkunftsgeschichte von ihrem ersten Lebensjahr 1941 bis ins Jahr 2006 und reflektiert sie in einem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang. Das Besondere: An keiner Stelle des Textes steht „ich“, sondern nur „man“, „sie“ oder „wir“. Ein Ich-Verzicht, um kollektive Erfahrungen zu beschreiben. „Autosoziobiografie“ nennt die Autorin dieses autofiktionale Verfahren, das sie erstmals Mitte der achtziger Jahre in ihr Schreiben einbezieht und in DIE JAHRE vervollständigt.
Ein aufwühlender Text, der für mich als Nachgeborene, die Erfahrungen von Sexualität, Emanzipation, Bildung, Ehe, Mutterschaft und Beruf in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts intensiv nachvollziehbar macht. Sehr gut geeignet, um das Schreiben der Nobelpreisträgerin kennenzulernen, da viele Themen und Ereignisse anklingen, die die Autorin in ihren früheren und späteren Werken explizit aufgreift.
Übersetzung: Aus dem Französischen von Sonja Finck
[Werbung, eigenes Exemplar]
Infos zum Buch
Originaltitel Les années
Genre Autofiktion
Verlag Suhrkamp
Seitenzahl 255
ISBN 978-3518469-682
Erscheinungsdatum 17.06.2019