
Arno Frank – Ginsterburg
- Stephanie Schaefers
- Februar 15, 2025
- #arnofrank, #deutschegeschichte, #gegendasvergessen, #ginsterburg, #klettcotta
„Am Tag, als Zola Vovoni den Verstand verlor, waren die Kraniche zurückgekehrt.“
Der erste Satz im Kapitel I von GINSTERBURG hat, wie wir als Lesende bald merken werden, wenig mit der Haupthandlung des Romans zu tun, und doch ist es ein so großartiger erster Satz, dass er hoffentlich in den Kanon der besten ersten Sätze eingehen wird. Denn dieser Satz ist wie eine Essenz all dessen, was der Roman thematisch umfasst und erzählerisch gestaltet: Zola Vovoni ist Wahrsagerin in einem kleinen Wanderzirkus, der durch Europa zieht. Sie liest Kund:innen aus Karten oder Händen. Dafür benötigt Vovoni nur ihre umfassende Menschenkenntnis, dass sie tatsächlich manchmal eine blitzartige Vision über eine konkrete Person oder ein Ereignis hat, verrät sie niemandem. Doch was sie durchzuckt, als sie 1935 in Ginsterburg die Hand des kleinen Lothar berührt, ist die Vision einer verstörenden Zukunft, die Zola Vovoni, die schon viel gesehen und erlebt hat, in den Wahnsinn treibt. Dem ersten Kapitel „1935“ folgen zwei weitere Großkapitel, die zeitlich genau in diese Zukunft führen: In die Jahre „1940“ und „1945“. Auch in diesen tritt Zola Vovoni auf, zwar nur kurz und am Rande, aber ihr Erscheinen mahnt umso eindringlicher vor dem Wandel der Zeit und vor der Unumkehrbarkeit des nahenden Abgrunds.
Große Symbolkraft geht im ersten Satz auch von den Kranichen aus. Immer wieder durchziehen sie die Romanhandlung, kündigen die Jahres- und Zeitenwechsel an und stehen für ein Naturgeschehen, das scheinbar unberührt neben dem menschlichen Unheil existiert. Doch diese Annahme wird unterlaufen: Blumen werden gepflückt und gepresst, Insekten aufgespießt und gesammelt, und in einer martialischen Schlüsselszene metzeln Wehrmachtssoldaten aus Frust und Langeweile Kraniche an einem See nieder. Wenn der Mensch, wie der Kranich, über natürliche Instinkte verfügt, so zeigen die Romanfiguren exemplarisch, wie ihm dieses positiv menschliche Verhalten geradezu abtrainiert wird, wie sich Moral und Urteilsvermögen verkehren.
„Wie konnten Menschen so unberührt bleiben vom Gang der Dinge? War es so einfach, sich im Gleichschritt zum schweren Tritt der Zeit zu bewegen? Nicht einmal aus bösem Willen, einfach aus Instinkt?“ (193)
So viel sei zu nur einem Satz gesagt. Diesem Satz folgt auf 430 Seiten ein vielschichtiges, mitreißendes und mahnendes Porträt der fiktiven deutschen Kleinstadt Ginsterburg und ihren Bewohner:innen, die auf eine gemeinsame Katastrophe zusteuern, an der alle beteiligt sind.
„Er zweifelte daran, dass Deutschland den Sieg verdient hatte. Und dieser Zweifel war ein Abgrund, in den zu schauen er sich um keinen Preis erlauben konnte. Er würde den Mund bewegen zu einem Lied, das er nicht mehr verstand.“ (362)
Ich habe letztes Jahr SEEMANN VOM SIEBENER so gerne gelesen und mich sehr auf den dritten Roman von Arno Frank gefreut. GINSTERBURG ist ein komplett anderer Roman, was vor allem an dem politisch-historischen Hintergrund liegt, der sich stark von der melancholisch-unterhaltsamen Atmosphäre eines SEEMANN-Freibadtages unterscheidet. Doch wie schon im SEEMANN entwirft Arno Frank auch in GINSTERBURG eine dichte Multiperspektive, die das allzu bekannte historische Narrativ äußerst dynamisch und vielstimmig macht und durch Zeitsprünge von fünf Jahren sogar noch steigert. Die einzelnen Figuren sind in ihrer besonderen Schrulligkeit und individuellen Verletzlichkeit so authentisch gestaltet, dass man sich als Leser:in in ihr Denken und Fühlen sehr gut hineinversetzen kann. Ein Roman über ganz „normale“ Menschen, deren richtige wie falsche Entscheidungen und Taten zu einem bestimmten Zeitpunkt zu persönlicher wie auch gesamtgesellschaftlicher Schuld führt, die nicht mehr rückgängig zu machen ist, die andere Leben zerstört und vielleicht auch das eigene Leben kostet. Ein Roman der Gegenwart! Unbedingt lesen!
„Städte wie Ginsterburg sind das Langzeitgedächtnis unserer Kultur“ (194)
[unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar]
Infos zum Buch
Genre Roman
Verlag Klett-Cotta
Seitenzahl 432
ISBN 978-360-8966-480
Erscheinungsdatum 15.02.2025
Vielen Dank an den Klett-Cotta Verlag für das Rezensionsexemplar.