Anne Berest – Die Postkarte

Eine besondere Erfahrung hat sich in die Zellen der Frauen der jüdischen Familie Rabinovitch eingeschrieben. Die Erfahrung einer tiefen, existentiellen Bedrohung, die sich in abgewandelter Form in den Biografien der Großmütter, der Mütter, der Schwestern, der Töchter wiederholt.

Ephraïm, Emma, Noémi, Jacques. Als Anne Berests Mutter Lélia 2003 eine Postkarte mit den vier Vornamen ihrer in Ausschwitz ermordeten Verwandten erhält, spürt sie diese Bedrohung erneut. Wer hat die Karte geschickt? Und warum stehen nur diese vier Namen darauf? Lélia erkennt, und Jahre später auch Anne, dass sie der Geschichte dieser vier Namen nachgehen müssen.

„Es ist nicht leicht, die Vergangenheit mit den Augen von heute zu beurteilen, weißt du. Vielleicht werden unsere Nachfahren unser alltägliches Leben auch einmal leichtfertig und verantwortungslos finden.“ (312)

Das Ergebnis ist eine Geschichte, die nicht in den französischen Geschichtsbüchern steht und mit der viele weitere Namen verbunden sind. Eine Geschichte, die bis nach Russland zurückreicht, von wo aus die Familie Rabinovitch einst nach Palästina floh. Eine Geschichte, deren Erzählstränge sich dann weiter verzweigten. Die Wege der Söhne, darunter auch Ephraïm mit seiner Frau Emma, führten über Lettland nach Paris. Dort hofften sie auf sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg und darauf, endlich Wurzeln schlagen zu können, doch 1942 wurden sie zu verratenen Opfern des nationalsozialistisch besetzten Frankreichs. Nur ihre älteste Tochter Myriam, Lélias Mutter, entkam dem Holocaust. Bis zu ihrem Tod schwieg sie über ihre Familie und ihr Leben in der Résistance.

Unterstützt von ihrer Mutter holt Anne Berest die verschwiegenen, verlorenen, unerzählten Geschichten aus der Vergangenheit zurück. Immer wieder muss sie mit Erstaunen und Erschrecken feststellen, dass die antisemitischen Erfahrungen dieser gelebten Leben noch gar nicht so lange zurück liegen und bis in ihre eigene Gegenwart fortwirken.

„Mama, ich bin deine Tochter. Du bist es, die mir beigebracht hat zu recherchieren, Informationen abzugleichen, das kleinste Fitzelchen Papier zum Reden zu bringen. In gewisser Weise setze ich nur die Arbeit fort, die du mich gelehrt hast, und beende sie. Von dir habe ich diese Kraft, die mich dazu treibt, das die Vergangenheit zu rekonstruieren.“ (433)

Die französische Autorin Anne Berest hat ein ebenso aufrüttelndes wie fesselndes Erinnerungsbuch geschrieben, das durch seine Montagetechnik eine besondere Authentizität erhält. Mit großer Unmittelbarkeit begleitet man einerseits die Autorin bei ihren Recherchen, wobei insbesondere die konfliktreichen Mutter-Tochter-Dialoge alltägliche wie grundsätzliche Herausforderungen aufzeigen, andererseits erzählen über die Originalzeugnisse hinaus romanhafte Passagen aus der Sicht der Ahn:innen. Aus den Vornamen werden lebendige und handelnde Menschen, deren Schicksale kaum zu ertragen sind. Ein Roman, der vor allem ein dunkles Kapitel französischer Geschichte aufzeigt, die Verstrickungen in den Nationalsozialismus, aber auch die fehlende Aufarbeitung und vor allem die über Generationen andauernden inneren Beschädigungen.

„Ich hatte jenes Alter erreicht, in dem eine bestimmte Kraft einen drängt zurückzuschauen, weil der Horizont der eigenen Vergangenheit jetzt weiter und geheimnisvoller ist als der der vor einem liegt.“ (221)

Sehr lesenswert!

Übersetzung: Deutsch von Amelie Thoma und Michaela Meßner

[unbezahlte Werbung, eigenes Exemplar]

Infos zum Buch

Originaltitel La Carte Postale
Genre Roman
Verlag
Berlin Verlag
Seitenzahl 544
ISBN 978-3827014641
Erscheinungsdatum 01.06.2023