Buchcover Lutz Seiler – Die Zeitwaage

Lutz Seiler – Die Zeitwaage

„Auf meinem Weg von der Garage nach Hause entfernte ich mich auf unumkehrbare Weise von dem, was mein bisheriges Leben ausgemacht hatte. Ich betrat einen leeren, erinnerungslosen Raum und kam gut darin voran, Schritt für Schritt und, gewissermaßen, Zug um Zug.“ (144)

In fast jeder der elf Erzählungen Lutz Seilers erleben die Protagonisten einen solchen Moment: Die Figuren, geprägt von einem grundsätzlichen Gefühl des Nicht-Dazugehörens, treten aus sich selbst heraus, entfernen sich von ihrem alltäglichen Erleben, wechseln plötzlich in eine Sphäre zwischen Traum und Wirklichkeit, die eigene Körperlichkeit tritt hervor, Erinnerungen und Gefühle drängen in den Vordergrund, etwas ewig Unausgesprochenes bricht auf, die Zeit verlangsamt sich, zersplittert oder kommt gar zum Stillstand, eine simultane, minutiöse Wahrnehmungsbeschreibung entsteht. Nimmt die Zeit schließlich wieder ihren linearen Lauf, ist nichts wie es war.

In TURKSIB reist ein Erzähler mit einer alten Eisenbahn zum gleichnamigen Ort. Auf dem Gang begegnet er einem Heizer, der aus Kafkas DER VERSCHOLLENE entsprungen zu sein scheint, und Heines LORELAI rezitiert. Während der Zug sich stoisch fortbewegt, gerät im Inneren der Waggons alles in Bewegung, die gewohnten Zeitkonstanten werden zerschnitten, neu zusammengesetzt und ihrer eigentlichen Realität enthoben.

Lutz Seiler las TURKSIB beim Bachmann-Wettbewerb 2007 und gewann mit dieser surrealen Erzählung. Der aus Gera stammende Autor, der zuvor vor allem Lyrik schrieb, überzeugte in seinem Prosatext durch die genaue Beschreibung seiner Figuren, deren Innenleben mit poetischer Bildkraft hervortritt.

Lutz Seiler, Büchner-Preisträger von 2023, ist inzwischen vor allem als Autor der Romane KRUSO und STERN 111 bekannt. Die Titelgeschichte von DIE ZEITWAAGE greift bereits Motive auf, die in STERN 111 weitererzählt werden. Der raumzeitliche Bezug auf das Ostdeutschland der Wende- und frühen Nachwendezeit und die Orientierung suchenden Figuren – all das findet sich bereits in diesen frühen Erzählungen, die aber sehr abwechslungsreich angelegt sind.
Sehr lesenswert!

Infos zum Buch

Genre Erzählungen
Verlag
Suhrkamp
Seitenzahl 284
ISBN 978-3-518-46628-5
Erscheinungsdatum 2009