Ursel Bäumer – Louise

Antony bei Paris, Anfang der 1930er Jahre. Unablässig kreisen Stimmen in Louises Kopf. Die Stimme ihres Vaters klingt streng und fordernd. Als kleine Louison sitzt sie brav wie ein starres Püppchen auf seinem Schoß, doch je älter sie wird, desto mehr widersetzt sie sich seiner Vorstellung von einer gehorsamen Tochter. Sie ist nicht bereit, ein abhängiges Leben als früh Verheiratete zu führen. Sie möchte freie Entscheidungen treffen, eigene Wege gehen, Kunst studieren.

Voller Hingabe und mit tröstlichem Verständnis ist für Louise die Stimme ihrer geliebten Maman Joséphine. Bis zu deren letztem Atemzug weicht Louise nicht von ihrer Seite, pflegt sie, hört ihr zu.

„Solange ich alles dafür tun kann, dass sie lebt, solange habe ich nicht versagt“ (40)

Während sich der Vater emotional und räumlich von der kranken Maman distanziert, sich offen dem jungen britischen Au-Pair Sadie zuwendet, übernimmt Louise allein die häusliche Sorge und auch die Geschäfte der elterlichen Tapisserie. Diese ist für Louise schon früh ein Ort, an dem aus Zeichnungen gewebte Geschichten entstehen, an dem Vergangenes repariert werden kann.

Bezeichnend ist eine sich wiederholende Kindheitserinnerung: Während Louises Vater beim Abendessen redet und sie ignoriert, formt sie ihn heimlich als kleine Brotfigur, die sie stückweise zerschneidet.

„Und ohne zu überlegen, nehmen wir seinen Körper auseinander, zerlegen ihn genüßlich in Einzelteile, trennen Kopf, Arme, Beine nach und nach ab und verspeisen ihn langsam Stück für Stück, bis nichts mehr von ihm übrig ist, bis er endgültig ausgelöscht ist.“ (67)

Was in der Kindheit als verzweifelt-schmerzvolle Suche beginnt, um das innere Chaos zu ordnen, wird später zu ihrer künstlerischen Sprache: Louise findet ihren gestalterischen Ausdruck für das, was sie als Frau, Tochter, Liebende und Trauernde bewegt. Louise Bourgeois‘ Kunst wird ihr plastischer Raum für Erinnerung und Verarbeitung.

Wie findet ein*e Künstler*in zur eigenen Stimme? Welche Spuren der eigenen Biografie spiegelt die Kunst?

Anhand dieser Fragen spürt sich Ursel Bäumer tief in ‚ihre‘ Louise ein und geht deren Emotionen von angstvollem Verlust, aufwühlender Scham und pochender Sehnsucht nach. In eindringlichen Erinnerungsschleifen, „Gedankenfedern“ aus Zeichnungen und Tagebucheinträgen, nähert sich die Bremer Autorin erzählerisch der jungen Louise Bourgeois, die später zu einer der bekanntesten Kunstgestalter*innen des 20. Jahrhunderts werden wird.

LOUISE ist ein intensiv recherchiertes Künstler*innenporträt, das keine vollständige Biografie wiedergibt, sondern durch sein sprunghaftes, vielstimmiges, dichtes und atmosphärisch gestaltetes Erzählen besticht. Wir tauchen als Lesende in Gerüche, Farben und Emotionen ein und begeben uns in die sinnliche Welt des Paris und Frankreichs vor hundert Jahren, die die junge Louise Bourgeois im Alter von zwanzig Jahren prägte. Ein eindringlicher Roman über Erinnerung, Schmerz und die Kraft der Kunst.

Merci für diesen Text!

„Die Kunst ist der Raum, in dem ich lebendig werde, in dem ich mich sicher fühle. Auch wenn sie mich peinigt, mich leiden lässt, mir alles abverlangt. […] Trotzdem arbeite ich weiter in der Hoffnung auf den Augenblick, an dem ich zur Tiefe durchdringe und meine eigene Stimme finde.“ (142)

[Werbung, Rezensionsexemplar]

Infos zum Buch

Genre Roman
Verlag
Nagel & Kimche
Seitenzahl 224
ISBN 978-3312-01280-0
Erscheinungsdatum 02.10.2022

Vielen Dank an den Nagel & Kimche Verlag für das Rezensionsexemplar.