Ulrich Land – Die Leiden der jungen Weiber
- Stephanie Schaefers
- November 29, 2024
- #goethe, #roman, #weiblichesicht
Wen wundert’s, es war uns allen längst klar. Johann Wolfgang von Goethe, der geniehafte Allstar der Weimarer Klassik, der uns erst mit seinem „Werther“ tief in die empfindsame und später mit seinem „Faust“ noch tiefer in die zweifelnde (Männer-)Seele blicken ließ. Diesen literarischen Übervater hat es natürlich nie wirklich gegeben.
Ein weiblicher Verschwörungsbund um Freifrau Charlotte von Stein und Christiane Vulpius hat ihn 1770 einfach erfunden. Denn die neun Damen, die in ländlichen Wasserschlössern oder am Hofe zu stillem Gehorsam und unermüdlichem Gebären verdammt sind, während ihre angetrauten Herren sich mit den Kammerzofen vergnügen, haben genug von der Männerwelt.
Um sich aus der allgegenwärtigen Bevormundung und Unterjochung zu befreien, erfinden sie ein eigenes „Mannsbild“, eines, das so auftritt, spricht und schreibt, wie sie es wollen: Die Kunstfigur „Goethe“ ist geboren und jede Geheimbündlerin wird vergangener oder gegenwärtiger Teil seiner ersponnenen Biografie mit verzweigtem Liebesleben.
Mit dem glücklosen Schauspieler Wilhelm finden die Damen auch eine geeignete Verkörperung ihrer Schimäre, durch einen Knebelvertrag wird Wilhelm zu Johann Wolfgang und muss genau so auftreten, wie es die Fadenzieherinnen wünschen. Die dichterischen Werke werden im Hintergrund von erfolglosen Schreibknechten verfasst oder die Damen greifen selbst zur Feder und schreiben endlich das, was sie schon immer lesen wollten.
„Und in des Dramas erstem Teil zumindest, wofür sie zuständig war, würde man vergebens nach Naturschwärmerei suchen. Empfindlichkeitsgesülze, ausgeleiertes! Vielleicht einen Osterspaziergang.“ (126)
Im Hintergrund agiert eine dunkle Gestalt mit Fasanenfeder am Hut, die mit schwefeligem Atem den euphorischen Damen so manche wahnwitzige Idee einflüstert, damit das ganze Vorhaben nicht doch noch ein „Männerding“ wird. Ein feministischer Mephisto darf nicht fehlen!
Goethe, eine Kopfgeburt, ein literarischer Deckmantel weiblicher Selbstermächtigung? – Eine sehr unterhaltsame Idee, und eine anspruchsvoll umgesetzte gleich dazu. Seine Erzählsprache scheint Autor Ulrich Land direkt aus dem 18. Jahrhundert übernommen zu haben. Da werden “Skripte retiriert“ und „ein Sinne vernebelnder Odeur“ wahrgenommen. Immer wieder aber bricht Land abrupt mit dieser Sprache und lässt vor allem Mephisto mit übertriebenem „Me-too“-Sound sehr gegenwärtig „parlieren“:
„Deine Loyalität hat vor allem dir zu gelten. Okay, das bedeutet, dass du mit echter Frauenpower zu deinen Ausflügen stehst. Energisch wie eine Bitch.“ (131)
Etwas fordernd ist die Vielzahl der „Frauensleute“, die den Geheimbund zwar lebendig macht, aber die multiperspektivische Erzählweise und die schnellen Orts- und Personenwechsel lassen die Handlung auch etwas sprunghaft erscheinen.
Mich würde interessieren, wie Leser:innen, die nicht über eine gewisse Kenntnis der „wahren“ Goethe-Biografie und seiner Werke verfügen, den Roman empfinden, ob sie die erzählerischen Wendungen, ironischen Anspielungen und literaturgeschichtlichen Querverweise überlesen?
Fazit: Für mich ein unterhaltsamer Roman, der den Personenkult um den „Dichterkerl“ Goethe aus einer schelmischen Perspektive betrachtet und in seiner kreativen Form des Re-Telling teilweise auf aktuelle Debatten um Fake News oder Gender-Gerechtigkeit übertragbar ist.
Ein paar Zweifel streuen, bisschen an der Identität kratzen, Ungewissheiten platzieren, und schon schlugen die Wellen hoch“ (203)
[Werbung, Rezensionsexemplar]
Infos zum Buch
Genre Roman
Verlag 8 grad verlag
Seitenzahl 216
ISBN 978-3910-228-399
Erscheinungsdatum 29.07.2024
Vielen Dank an den 8 grad verlag und die Agentur Buch Contact für das Rezensionsexemplar