Sarah Moss – Sommerwasser

„Das Licht verändert sich überhaupt nicht an diesen tristen Sommertagen, Stunde für Stunde sickert graue Blässe durch die Bäume, der Himmel sieht beim Frühstück genauso aus wie beim Zubettgehen. Es regnet.“ (122)

Ein See, von nassen Wäldern umrahmt, abgelegen im schottischen Nirgendwo. Seit Tagen nur Regen. Die Urlauber:innen der wenigen, dafür aber dicht gedrängten Hütten haben sich ihre Zeit hier anders vorgestellt.

Justine joggt durch den grauen Morgen, während ihr Mann und die beiden Söhne noch schlafen. Der lähmende Stillstand in ihrem Inneren schreit ihr jetzt noch lauter entgegen. Josh und Milly feilen derweil an ihrem gemeinsamen Orgasmus, der ihrer jungen Beziehung beweisen soll, dass sie zusammenpassen, dass sie hier eine ebenso glückliche Zukunft verbringen können, wie schon Joshs Eltern. Hätte der 16-jährige Alex Handyempfang würde er ein SOS-Mayday absetzen. Frustriert von den Ferien an diesem einödigen See wünscht er sich nur weitmöglichst von seinen Eltern und Schwester Becky fort, die ihrerseits verzweifelt mit Selbstmordgedanken spielt. Währenddessen erinnert sich Rentner David wehmütig an die ausgelassenen Sommerabende, die er einst mit Ehefrau Mary hier verbracht hat. Die veränderte Mary nur zu einem kleinen Ausflug zu überreden, ist jetzt ein tagesfüllender Kraftakt.

Nur eine Hütte trotzt der aufgeladenen Ereignislosigkeit. Zur kleinen Violetta und ihrer Mutter kommen ständig wechselnde Menschen. Die Osteuropäer hören laute Musik und feiern ausgelassen. Von allen anderen Hüttenbewohner:innen werden sie missmutig bis erstaunt beäugt.

Eigentlich wollten sie alle (vor allem die zahlenden Erwachsenen) an diesen See kommen, um eine Auszeit vom Alltag und seinen stressigen Anforderungen zu nehmen. Sie wollten Erinnerungen an vergangene, leichte Tage nachspüren oder sich auf das Wesentliche und die Nähe zur Natur besinnen. Doch der Dauerregen ändert alles. Er spült jede Sommerlaune fort, nimmt den zerstreuenden Blick auf den See. Stattdessen bohrt sich der Regen in die Tiefe, wirbelt tief Verfestigtes auf, lenkt den Blick unerbittlich ins Innere – Ängste, Sorgen, Vorwürfe, Unausgeglichenheiten werden so in den Figuren hochgespült.

„diese Art Dauerregen ist nicht gut. Es ist, als wäre das Wetter hängen geblieben, als wäre das ganze Zusammenspiel, der Golfstrom und die Weltraumwinde, der ganze Wasserkreislauf, Sachen, die wir gar nicht bemerken, zum Stehen gekommen.“ (143)

Großartig wie die britische Autorin Sarah Moss in SOMMERWASSER den vermeintlich kleinen Zeitabschnitt eines Tages als eine in vielen Nuancen grau schillernde Sommerurlaubstristesse beschreibt. Das Erzählverfahren der Dehnung und Verlangsamung ist abwechslungs- und temporeich, denn der vermeintliche Stillstand wird zugleich zur kritischen Innenschau der einzelnen Figuren, die sich an diesem Sehnsuchtsort gerade nicht zerstreuen können, sondern ihr Dasein und ihre Gefühle wie unter einem Brennglas sezieren. Gerahmt wird die Figurenschau von kleinen Zwischenkapiteln, in denen die Natur- und Tierwelt wie ein dramatischer Chor das Gesamtgeschehen kommentiert.

Das mag sich vielleicht sehr durchkomponiert und anstrengend anhören, aber der Roman fließt perfekt!

Während ich letzte Woche noch SEEMANN VOM SIEBENER und seine sonnig-lockere Freibad-Vibes gefeiert habe, bin ich diese Woche komplett von der verregnet-verzweifelten SOMMERWASSER-Laune eingenommen. Was beide Romane eint, ist die gelungene Perspektivenvielfalt auf eine vermeintlich gleiche Szenerie, die aber immer wieder neue Blickwinkel, neue Tonlagen und Lebensausschnitte bietet. Zwei sehr lesenswerte Sommerromane, die viel Wasser und Tiefgang schenken!

Übersetzung: Aus dem Englischen von Nicole Seifert

[Werbung, eigenes Exemplar]

Infos zum Buch

Originaltitel summerwater
Genre
Roman
Verlag
Unionsverlag
Seitenzahl 192
ISBN 978-3293006096
Erscheinungsdatum 10.06.2023