
Sara Mesa – Die Familie
- Stephanie Schaefers
- Mai 25, 2025
- #familiengeschichte, #roman, #spanischeliteratur, #wagenbachverlag
Als heimliche Beobachter:innen betreten wir im ersten Kapitel von DIE FAMILIE eine Wohnung, die sofort Unbehagen auslöst: Keine Spur von Wärme oder Geborgenheit – nur eine trügerische Ordnung, hinter der sich Bedrohung und Verstellung verbergen. Der Blick fällt auf verborgene Winkel, auf ein Versteck im Schrank. Von hier aus sind wir gezwungen, genau hinzusehen: Welche Szenen spielen sich hier über Jahre hinweg ab?
DIE FAMILIE besteht aus Vater Damián und Mutter Laura. Zu den drei Kindern Damián jun., Rosa und Aqui kommt die adoptierte Nichte Martina hinzu. Damián ist Anwaltsgehilfe, gibt sich aber als Anwalt aus. Er verehrt Gandhi und engagiert sich öffentlich für benachteiligte Menschen. Als Experimentierfeld gelebter Werte instrumentalisiert er vor allem seine Familie, fordert von Frau und Kindern Ehrlichkeit und Vertrauen ein. Widerworte oder kritische Rückfragen sind tabu. Fernsehen? Comics? Mode? Besuche bei Freund:innen? Dies wird als falsche Zerstreuung abgelehnt.
Kapitel für Kapitel verfolgen wir die absurde Umsetzung dieses Familienlebens. Erkennen Damián als Patriarch, der Vertrauen mit Kontrolle und Geradlinigkeit mit Täuschung verwechselt. Zwar wendet er keine körperliche Gewalt an, erpresst seine Kinder jedoch moralisch, verstümmelt sie emotional.
„Dass über manche Dinge nicht gesprochen wird, bedeutet in diesem Fall aber nicht, dass sie vergessen wären, und schon gar nicht vergeben. Die Auslassung steht nur für den unerträglich lastenden Vorwurf, der immer wieder auf sie niedergeht.“ (93)
Autorin Sara Mesa erzählt in kühl beobachtendem Ton, springt zwischen Perspektiven und Zeiten, bleibt dabei stets zu allen Figuren in gleicher Distanz. Wie in einem Kammerspiel beschreibt sie alltägliche Szenen, in denen sich die väterliche Macht leise, aber unbarmherzig entfaltet. Die Familienmitglieder leiden unterschiedlich – je nach Temperament und Widerstandskraft. Durch kleine Fluchten oder drastische Reaktionen versuchen sie sich zu entziehen. Doch selbst Jahre später fern der familiären Wohnung wirken die seelischen Verletzungen nach – in Gedanken, Beziehungen, Lebensentscheidungen.
„diese Traurigkeit lag anderswo, an einem Ort, der so fern war, dass er sich unmöglich beschreiben ließ“ (97)
Ein beklemmend atmosphärischer Roman, der die Fassade einer scheinbar ‚intakten‘ Familie einreißt, Machtmissbrauch, psychische Gewalt und deren Folgen sichtbar macht. Ein intensiver Antifamilienroman – ein erzählerischer Appell, genau hinzusehen.
Übersetzung: Peter Kultzen
[Unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar]
Infos zum Buch
Orginaltitel La familia
Genre Roman
Verlag Verlag Klaus Wagenbach
Seitenzahl 240
ISBN 978-3803133748
Erscheinungsdatum 20.02.2025
Vielen Dank an den Wagenbach Verlag für das Rezensionsexemplar.