Jutta Reichelt – Mein Leben war nicht wie es war
- Stephanie Schaefers
- September 11, 2024
- #autobiografischeressay #juttareichelt, #diekanon
„Offenbar gibt es Ereignisse, die so furchtbar sind, dass wir sie uns nicht vorstellen können – auch wenn wir sie selbst erlebt haben. Gerade wenn wir sie selbst erlebt haben: Sie verschwinden und führen ein Eigenleben.“ (98)
Jahrzehntelang trug Jutta Reichelt eine vermeintlich klare Erinnerung an ihre frühe Kindheit nach außen. Doch tief in ihrem Inneren und auch körperlich spürte sie, dass mit ihrem Kindheitsnarrativ etwas nicht stimmte. Dass da eine Lücke in ihrem Gedächtnis klaffte, die sie trotz des Erinnerungsabgleichs mit ihren drei erwachsenen Geschwistern einfach nicht füllen konnte. Das Verhältnis zu den Eltern war nie herzlich, sie hatten Fehler gemacht. War das Aufwachsen der vier Kinder „normal“ verlaufen?
Die Fragen und Zweifel wurden für Jutta Reichelt immer lauter, bis sie Gewissheit hatte: Den sexuellen Missbrauch durch den Vater und die emotionale Vernachlässigung durch beide Eltern hatte sie verdrängt, hatte sie wie aus dem Gedächtnis gelöscht.
„Durch mein Leben zog sich ein Riss, den ich nicht hatte sehen können. Ich konnte immer nur die eine Seite sehen, auf der ich mich gerade befand – die andere existierte nicht. Die Frau, die am Abgrund steht und ihn nicht sieht…“ (53)
Nach schwierigen Jahren, zwei Therapien und einem fordernden Prozess der Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Erinnerungen war Jutta Reichelt klar: Sie musste an den Abgrund ihrer Kindheit gehen, nicht um hinabzustürzen, sondern um sich dann von diesem Abgrund entfernen zu können.
„man kann kein gutes Leben führen und noch nicht einmal ein mittelmäßiges oder bescheidenes. Man überlebt. Um zu überleben, müssen wir das Unaushaltbare zum Verschwinden bringen; um mehr als nur zu überleben, müssen wir es aus der Versenkung holen – das ist die paradoxe Logik des Traumas.“ (60)
MEIN LEBEN WAR NICHT WIE ES WAR ist das literarische Abschreiten dieser Lebensrandzone. Zehn Jahre benötigte Jutta Reichelt, um ihren Erinnerungsraum als autobiografischen Essay in Worte fassen zu können. Denn es ging ihr auch darum, wie sie als Autorin ihre traumatische Geschichte erzählen konnte, wie sie diese Geschichte mit erzählerischen Mitteln glaubwürdig aufschreiben konnte.
Jutta Reichelt gelingt es auf bemerkenswerte Weise, die Leser:innen an ihren biografischen Abgrund einer „vermeintlich ganz normalen Familie“ (68)mitzunehmen. Aufrichtig, mit dem richtigen Maß an Emotionalität und Detailgenauigkeit setzt sie sich mit ihrem sexuellen Missbrauch und ihrem Trauma auseinander, verliert aber vor allem nie aus den Augen, wie sie in ein selbstbestimmtes Leben gefunden hat.
Entscheidende Impulse aus ihren Therapien, ihrer Schreiberfahrung und ihren umfassenden Lektüren haben sich in ihren Essay mit eingeschrieben, der so zu einem Text vieler weiterer Texte und Autor:innen wird. Gekonnt weitet Jutta Reichelt dadurch den Blick von ihrem persönlichen Erleben auf vielfältige andere Missbrauchserfahrungen. Ich gehe aus der Lektüre mit neuem Wissen hervor, insbesondere mit einer neuen Wahrnehmung von sexualisierter Gewalt.
„Es ist eine doppelte Bürde, mit der Menschen, denen ‚Unvorstellbares‘ widerfahren ist, oft zu kämpfen haben: Schon das ursprüngliche Geschehen birgt ein hohes Risiko, davon vollkommen an den Rand des Lebens gedrückt zu werden, und dann wird in der Folge auch noch die eigene Glaubwürdigkeit und Integrität in Zweifel gezogen“ (111)
Dieser Text ist kein Opfer- oder Traumabericht, obwohl er viele schmerzhafte und erschütternde Aspekte enthält. Dieser Essay baut mit seiner Reflexionstiefe eine Brücke zu Teilhabe und besserem Verstehen und macht vor allem Jutta Reichelt als kraftvolle und inspirierende (Wort-)Gestalterin ihrer eigenen Geschichte sichtbar.
„Ich bin so vieles und jeden Moment setzt sich mein Gefühl davon, was mich ausmacht, aus anderen Aspekten und Teilen oder Stimmungen zusammen.“ (179)
[Werbung, Rezensionsexemplar]
Infos zum Buch
Genre autobiografischer Essay
Verlag Alfred Kröner Verlag
Seitenzahl 216
ISBN 978-3520913012
Erscheinungsdatum 20.08.2024
Danke an die Autorin und den Alfred Kröner Verlag für das Rezensionsexemplar!