
Jérôme Ferrari – Nord Sentinelle
- Stephanie Schaefers
- März 26, 2025
- #französischeliteratur, #philosophisch, #secession, #wasser
„Es ist keine Prophezeiung vonnöten, um zu wissen, dass der erste Reisende stets unzählige Katastrophen nach sich zieht“ (11)
Hätte sich die Welt anders entwickelt, wenn im Jahr 1492 ein Indigener der Karibik Christoph Kolumbus getötet hätte, anstatt ihn mit freundlicher Neugier zu empfangen? Oder wenn Sultan Ahmad ibn Abu Bakr 1855 Captain Richard Francis Burton nicht durch die Tore der Stadt Harar gelassen hätte?
Welche fatalen Folgen hat die Ankunft eines Reisenden in einem ihm unbekannten Raum? Wann wird eine Reise zur gewaltsamen Eroberung, weil der Ankömmling Besitzansprüche stellt, den dort lebenden Menschen Gewohnheiten und Gedanken, Unterdrückung und Abhängigkeit aufzwingt?
Mit diesem philosophischen Gedankenspiel eröffnet der französische Autor Jérôme Ferrari seinen Roman NORD SENTINELLE und springt dann gleich ans andere Ende des Zeitstrahls: In der erzählten Gegenwart hat der junge Alexandre Romani im Hafen einer korsischen Kleinstadt den Touristen Alban Genevey aus scheinbar nichtigem Anlass erstochen. Wie es dazu kommen konnte, berichtet ein ironischer Ich-Erzähler, der in vielerlei Hinsicht unglücklich mit der Familie des Mörders und der Insel verbunden ist. In gedanklichen Schleifen umkreist er rückblickend sein Aufwachsen auf Korsika und die sich wandelnde Identität der Bewohner:innen, deren Werdegänge und Lebenskultur sich zeitlebens in großer Abhängigkeit vom Tourismus entwickelt haben. So stellt sich implizit die Frage: Hätte die Tat des jungen Alexandre verhindert werden können, wenn Reisende vor Jahrhunderten Korsika nicht hätten betreten dürfen?
„wir hatten niemanden getötet, wir hatten wie Vollidioten dem ersten Reisenden unsere Arme weit geöffnet und andere Reisende waren ihm gefolgt und wir fanden uns in der der entsetzlichen Dialektik wieder“ (133)
NORD SENTINELLE ist eine spannende Mischung aus rekonstruiertem Kriminalfall, sensiblen Lebenserinnerungen und philosophischem Essay. Die sprunghafte Erzählweise mit wechselnden Perspektiven auf verschiedene Figuren und die anspruchsvollen Schachtelsätze, die sich teilweise über eine ganze Seite erstrecken, erfordern beim Lesen Konzentration. Die gedankliche Verknüpfung von Kolonialismus und Tourismus, Macht und Würde, Glück und Gewalt anhand der Rekonstruktion eines Verbrechens hat mich sehr fasziniert.
Übrigens: Von außen ebenfalls ein unglaublich schönes und sehr hochwertig gestaltetes Buch!
Übersetzung: Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
[Unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar]
Infos zum Buch
Genre Roman
Verlag Secession Verlag Berlin
Seitenzahl 180
ISBN 978-3966391177
Erscheinungsdatum 24.02.2025
Danke an den Secession Verlag und die Agentur Literaturtest für das Rezensionsexemplar!