Stefanie vor Schulte – Das dünne Pferd
- Stephanie Schaefers
- September 25, 2024
- #diogenes, #stefanievorschulte
Was für ein literarischer Ritt ist dieser Roman? Ritt ist wohl das falsche Wort, denn das titelgebende DÜNNE PFERD lässt sich absolut nicht reiten, es harrt stoisch am Meeresstrand aus und beschäftigt alle Figuren, allen voran Aria.
In einem klapprigen Bus kommen Aria und Marion mit fünfzehn verschreckten und kränklichen Kindern in Einstadt an. Sie haben eine dunkle Stadt verlassen, wo die Eltern sich nicht an ihre Kinder erinnern können, das Überleben der Gruppe ist ungewiss.
„Die Kinder waren Stück für Stück zu einem Mysterium in der Mitte der Gesellschaft geworden, bis man sie aus der Mitte genommen und an den Rand geschoben hatte, sodass Arias Aufgabe nur noch darin zu bestehen schien, sie an ebendiesem Rand vor einem Schubser in die Tiefe zu bewahren.“ (92)
Ob es in Einstadt oder anderswo auf dieser welkenden Welt noch einmal hell wird, bleibt fraglich. Unheimlich still und lauernd träge ist diese Welt, durch die sich die kleine Schicksalsgemeinschaft schleicht. Ein kleiner Lichtblick ist Hayden, Einzelkämpferin mit lebensrettendem Selbstverteidigungsinstinkt, die Energie und Gelassenheit ausstrahlt. Sie wird sich der Gruppe anschließen, zur unerschrockenen Beschützerin von Aria.
In Einstadt bezieht die Gruppe ein verlassenes Badehotel, vielleicht ist es auch ein Horrorkasten am brodelnden Abgrund, keiner weiß es so genau. Sie wollen kurz durchatmen, wissen, dass sie auch hier nicht lange bleiben können, sind bei den Einstädtern nicht willkommen, vor allem nicht beim Anführer Imre Brandt, der nur aus brennendem Schmerz besteht. Zwischen den unglücklichen Haus-Frauen und verkommenen Cowboy-Männern der Stadt sorgt die Gruppe für unbequeme Unruhe und handlungsfordernde Begehrlichkeiten. Als Aria dann auch noch das magere Pferd am Strand findet und es mit aller Kraft die Felsküste hinaufbringen will, geraten Energien, Besitzansprüche, Hoffnungen und Ängste in einen tornadoartigen Reigen, der alle noch schneller in den Untergang zu treiben scheint.
Bereits in JUNGE MIT SCHWARZEM HAHN erweckte Stefanie vor Schulte ein dystopisches Szenario zu unvergleichlich spannungsgeladenem Leben. In DAS DÜNNE PFERD entwickelt sie erneut eine schildernd-rohe Welt um ihre gebrochenen, kantigen Figuren.
Sogar eine verdammt miese Welt, die zeitenthoben zwischen Vergangenheit und Zukunft schwebt und doch so viele vertraute oder medial tradierte Alltagselemente in sich birgt, dass man sie als Leser:in nicht weit von sich weisen kann.
Etwas ist bedrohlich, unwiderruflich in Schieflage geraten, wenn Häuser, Bäume, Stühle, all die unbelebten Dinge und die zerstörte Natur die Zähne fletschen, stöhnen und seufzen, während die getriebenen Menschen erstarren, erkalten, kein Miteinander und keine Worte mehr füreinander finden.
Wofür und für wen lohnt es sich in dieser Welt noch unermüdlich zu kämpfen?
„Entweder du hast die Eier, auf einer Seite zu stehen. Oder du hast sie eben nicht.“ (26)
Was macht uns gleichsam zu Verlierer:innen und Held:innen, zu Hoffnungsträger:innen und Zerstörer:innen? Stefanie vor Schulte hat ihre „Stallburschen des Schicksals“ mit so viel glaubwürdiger Unruhe und skurril-bedeutungsgeladener Eigenart gestaltet, dass man ihnen atemlos folgen muss, vor allem denen, die keine Eier haben.
„Hast du schon mal überlegt, Schulman, dass es keinen Sinn macht. Das alles hier. Nicht mal einen grausamen. Dass wir einfach nur so was wie eine vergessene Schublade sind im Universum. Du weißt schon.“ (165)
Postapokalyptische Western-Persiflage? Endzeitparabel weiblicher Stärke? Ideensprühende Fabulierkunst?
Egal, ich fand den Trip, äh Ritt, einfach großartig!
[Werbung, Rezensionsexemplar]
Infos zum Buch
Genre Roman
Verlag Diogenes Verlag
Seitenzahl 239
ISBN 3257073135
Erscheinungsdatum 21.08.2024
Vielen Dank an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar!