Dorothee Elmiger – Die Holländerinnen

Eine Autorin reflektiert in einem Vortrag ihr Werk und die Poetik ihres Schreibens. Im Mittelpunkt steht ihr jüngstes, bis heute unvollendetes Projekt: ein Text, der drei Jahre zuvor als Auftragsarbeit eines bekannten Theatermachers begann. Er sollte die Grundlage für ein neues Stück mit dem Arbeitstitel „Die Holländerinnen“ bilden – basierend auf einer wahren Geschichte: dem rätselhaften Verschwinden zweier junger Frauen in einem mittelamerikanischen Urwald.

Der Theatermacher lud die Autorin als literarische Protokollantin in ein zusammengestelltes Recherche- und Ensembleteam an den Ort des Geschehens ein. Kurz darauf flog sie über den Atlantik, reiste in eine abgelegene Tropenregion und tauchte dort ein.

Nachtschwärze, Gefahr, Unbehagen, Grenzüberschreitung, Verstörung, Wahnsinn, Täuschung, Verlorenheit, Terror, fürchterliche Weite, ungeheure Wirklichkeit

… dies alles bringt der Urwald hervor. Er wirkt wie etwas Lebendiges: pulsierend, drohend, verführerisch. Schon bald verschwimmen für die Erzählerin die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Erlebtem, Erlesenem und Erzähltem. Was löst diese Verwirrung aus? Die wahre Begebenheit am realen Ort? Die Gespräche im Team? Oder der Urwald selbst, der alle zu beeinflussen scheint?

„In der Nacht habe sie sich dem Urwald gänzlich ausgeliefert gefunden. Er sei von einem ungeheuren, ja höllischen Lärm erfüllt gewesen, der aus allen Richtungen auf sie eingedrungen sei, dem Lärm des brodelnden Waldes, in dem alles lebe und schreie und sterbe“ (41)

Vielleicht hat dieser Ort einst die beiden Holländerinnen verschluckt – und droht nun, es mit dem Theaterensemble zu wiederholen. Die wenigen Tage, die die Schriftstellerin dort verbrachte, erschütterten sie so tief, dass sie das Erlebte bis in die Gegenwart nicht in einen fertigen Text verwandeln kann.

„Man würde denken, sie hätten sich im Laufe der Zeit allmählich an ihre Umgebung, an die schwarzen Nächte, die laut wuchernde, die moderne Flora, an den Wahnsinn der Fauna gewöhnt, sagt sie, aber dies sei nicht der Fall gewesen.“ (113)

Wie erzählt man etwas, das sich eigentlich nicht erzählen lässt? Wie dicht kann ein literarischer Raum gestalten werden, um über Schweigen, über die Leerstellen und über die Verzweiflung an der Unmöglichkeit des Beschreibens zu reflektieren? Dorothee Elmiger stellt diese Fragen ins Zentrum ihres Werkes DIE HOLLÄNDERINNEN und beantwortet sie, indem sie Inhalt und Form nahtlos ineinandergreifen lässt.

Indirekte Rede, die das unmittelbare Erleben konsequent verweigert, verschränkt sich mit wechselnden Erzählzeiten und zahlreichen intertextuellen Verweisen. So entsteht ein Textdschungel, der sich parallel zum erzählerischen Handlungsort auftürmt – und in dem sich die Figuren immer wieder verfangen.

Was wie ein abstraktes, hochliterarisches Romanexperiment wirkt und anfangs etwas Eingewöhnung beim Lesen erfordert, entwickelt rasch eine starke Sogwirkung. Ich konnte sicher nicht alle Zitate oder Referenzen zuordnen und habe mich gelegentlich in unwegsamen Erzählschleifen verloren – doch der Text als Ganzes trägt, packt und bewegt. Ein verdientes Buchpreisbuch, dessen Kraft weniger aus Handlung oder nahbaren Figuren besteht, sondern aus seiner literarischen Konstruktion. Für mich ein echtes Leseereignis.

„Es sei das Credo des Theatermachers gewesen, dass ‚immer alles mit reingehöre‘, dass es darum gehe, die Verstrickungen, Verbindungen, das Synchrone und scheinbar Zufällige zu sehen“ (80)

[Werbung, eigenes Exemplar]

Infos zum Buch

Genre Roman
Verlag
Carl Hanser Verlag
Seitenzahl 160
ISBN 978-3446282988
Erscheinungsdatum 19.08.2025